: Von der „führenden Rolle“ der SED bleibt nur Konfusion
■ Vier SED-Politbüro-Mitglieder schon wieder abberufen / Modrow fordert Unabhängigkeit der Regierung von SED-Apparat / Forderung nach Außerordentlichem Parteitag nicht vom Tisch / Hermann Kant:„Die Massen machen uns Beine und wir reden von der führenden Rolle der Partei“
Berlin (taz/ap) - Die Führung der SED befindet sich offenbar in einem Zustand der Konfusion und des Rückzugs auch vor der eigenen Basis. Bereits zwei Tage nach der Wahl des neuen SED -Politbüros hat das gestern zuende gegangene Plenum des Zentralkomitees der Partei vier Mitglieder und Kandidaten wieder abgelöst. Der langjährige SED-Chef von Halle, Hans -Joachim Böhme, verlor seinen Posten als Vollmitglied der Machtzentrale. Seine Kollegen aus Cottbus und Neubrandenburg, Werner Walde und Johannes Chemnitzer, wurden von ihren Aufgaben als Kandidaten des Politbüros ebenso abgelöst wie Inge Lange. Böhme hatte bei der Wahl am Mittwoch die meisten Gegenstimmen erhalten.
Bereits einen Tag später stürzte ihn seine eigene Basis im Bezirk Halle vom Amt des SED-Bezirksvorsitzenden. Am Freitag wurde er ebenso wie die drei Kandidaten vom Zentralkomitee einstimmig abgelöst. Auch Werner Walde, SED-Bezirkschef in Cottbus, bekam einen Tag nach seiner Wahl Probleme mit der Parteibasis. Die früheren Politbüromitglieder Herrmann und Mittag wurden wegen „gröblichster Verstöße gegen die innerparteiliche Demokratie“ aus dem ZK abberufen.
Aus den gestern veröffentlichten Diskussionsreden auf dem ZK-Plenum geht hervor, wie tief die Verunsicherung der Funktionäre ist. Der FDJ-Vorsitzende Aurich sagte vor dem ZK -Plenum, die junge Generation sei „in ihrem Herzen, in ihrem Perspektivbewußtsein, in ihrem Denken, in ihren Köpfen mittlerweile so betrogen worden“, daß es schwer werde, „wieder um ihr Vertrauen zu kämpfen“. Sie sei der „sinnentleerten Worte und Phrasen überdrüssig“. Die sektiererische Einengung der FDJ, „Helfer und Kampfreserve der SED“ zu sein, und ihre Ausrichtung auf kommunistische Erziehung stünden mehr und mehr den Interessen ihrer Mitglieder entgegen, sagte Aurich.
Der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, Hermann Kant, erklärte, „die Massen machen uns Beine, und wir reden von unserer führenden Rolle dabei - noch eine grandiose Augenwischerei!“ Zugleich ließ er keinen Zweifel daran, daß er diese „führende Rolle“ deshalb „wiederbekommen“ will, weil seiner Meinung nach nur die SED „Volkseigentum wirklich beibehalten und vor Korruption wie Reaktion schützen will“.
Hans Modrow, der künftige Vorsitzende des Ministerrates, machte in seinem Redebeitrag deutlich, daß eine Regierung unter seiner Führung auf sehr viel größere Eigenständigkeit gegenüber dem Parteiapparat dringen will, als sie ihren Vorgängern eingeräumt wurde: „Zwischen Parteiführung und Regierung wird ein völlig neues Verhältnis zu schaffen sein.“ „Bisher übliche direkte Zugriffe auf den Staatsapparat sind zu beseitigen.“ Ihre „führende Rolle“ soll nach seiner Auffassung die SED künftig über die Volkskammer ausüben: „Die Partei muß mit ihrer politischen Aktivität auf die Volksvertretungen wirken und kann sich nicht mehr auf die staatliche Exekutive richten.“
Kritisch äußerte sich Modrow zur gegenwärtigen Parteiführung: „Jetzt haben wir die Wende erklärt, aber die Partei hat es bisher nicht vermocht, sich sichtbar und überzeugend an die Spitze zu stellen.“ Als Beispiel nannte er den Beschluß zur Einberufung einer Parteikonferenz: „...das Plenum hat unter den Forderungen von draußen diese Entscheidung getroffen.“ Auf einen Zwischenruf von Krenz, daß in seiner Rede schließlich schon von einer solchen Konferenz gesprochen worden sei, antwortete Modrow: „Aber die Vorlage, Egon, haben wir praktisch heute eingebracht. Bleiben wir doch ehrlich miteinander.“
Den Beschluß für eine Parteikonferenz hatte das Plenum offenkundig gefaßt, um einen von der Parteibasis geforderten Außerordentlichen Parteitag zu verhindern. Auf der Pressekonferenz am Donnerstag abend hatte Politbüromitglied Schabowski noch behauptet, auch eine Konferenz könne die notwendigen Personalentscheidungen treffen, sprich: die ZK -Mitglieder aus der Ära Honecker abwählen. In einem Interview mit der Ost-„Berliner Zeitung“ von gestern stellte ein Dozent von der Bezirksparteischule Berlin jetzt fest, daß das falsch ist. Die Konferenz könne nur Kandidaten für das Zentralkomitee wählen, keine stimmberechtigten Vollmitglieder. Sie kann keine Veränderungen an Statut oder Programm vornehmen. Hatte Schabowski gegenüber der Presse noch behauptet, ein Parteitag werde nicht einberufen, weil das mindestens zwei Monate im voraus geschehen müße, so stellte der Dozent vom Lehrstuhl Parteiaufbau jetzt fest, ein Außerordentlicher Parteitag müße spätestens zwei Monate nach dem entsprechenden Beschluß zusammentreten. Er wies außerdem darauf hin, daß nicht nur ein ZK-Plenum, sondern auch ein Drittel der Parteimitglieder einen Sonderparteitag veranlassen kann.Daß in den nächsten Wochen eine Initiative dazu zustande kommt, ist angesichts der Stimmungslage in der Partei nicht mehr auszuschließen.
Walter Süß
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