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Helmstedt: Ein Betriebsausflug nach drüben

Offene Grenze auch in Niedersachsen, aber nur wenige der DDR-Besucher wollen in der Bundesrepublik bleiben / Alkohol in Strömen, Schokolade und Bananen  ■  Von Jürgen Voges

Hannover (taz) - Gerade bis zur Mittagszeit hält der Jubel noch an: mit Johlen, Klatschen und Pfeifen begrüßen die jungen Bundesbürger gleich hinter dem Grenzerhäuschen jeden einzelnen Trabbi oder Wartburg, der an diesem ersten reisefreien Morgen die Grenze bei Helmstedt passiert. Aus dem Spalier von 200 Menschen, das sich links und rechts der Spur gebildet hat, werden den Fahrern Sekt- und Bierflaschen zugesteckt, die auch schon mal halbleer getrunken sind. Einer der wenigen älteren Bürger reicht einen Schokoriegel durchs Wagenfenster und eine Gruppe älteren Frauen, die per Betriebsausflug eines Briefmarkenversands angereits sind, verteilt reihenweise Schokoladentafeln der Marke „quadratisch, praktisch, gut“. Der Chef des Betriebes hat sie gleich kartonweise eingekauft. Ein Rentner schließlich kramt die letzten Markstücke hervor und steckt sie einer Trabbi-Fahrerin zu: „Kauf dem Kleinen ein paar Bananen.“

Auf die junge DDR-Bürgerin aus Magdeburg und ihr kleines Kind wartet der Mann und Vater an der Grenze: Direkt vor dem BGS-Häuschen fallen sie sich in die Arme, ein paar Glückstränen fließen, wie bei so manchen, die heute zum ersten Mal oder zum letzten Mal in die BRD reisen. Doch die junge Frau aus Magdeburg will ihren Mann bloß wieder nach Hause holen. „Der ist schon seit Montagabend hier.“

„Gehen Sie bitte zurück, ich brauche ein bißchen Freiheit“, ruft erschöpft der Polizeimeister, der die Ankommenden zu zählen und gegebenenfalls mit dem gelben Übersiedler -Flugblatt des Bundesministers des Innern auszustatten hat. Erster Satz: „Nach Tagen der Ungewißheit haben Sie Ihr Ziel erreicht!“ Staatliche Stellen und soziale Organisationen hätten „nach Kräften Vorsorge getroffen, Sie aufzunehmen“. Doch von den gut 4.000 Bürgern der DDR, die zwischen Donnerstagabend 22 Uhr und gestern mittag die Grenze bei Helmstadt passiert haben, bekunden nur wenige den Willen zur Ausreise: BGS-Polizeimeister Steinberg, grüner Parka, grünes Barret, zählt zwischen zehn und halb zwölf nur noch ganze fünf Personen.

Auch Helmstedt feierte natürlich die erste Nacht der offenen Grenze. Sekt, Bier und Schnaps flossen in Strömen, Leuten aus der DDR wurden gleich ganze Bierkästen in die Wagen gestellt. Allerdings sei die Begrüßung gegen fünf Uhr morgens weniger herzlich geworden, einige Alkoholisierte hätten gegenüber den DDR-Besuchern „freche Sprüche“ gemacht. „Darum haben wir die Leute dann gebeten, sich zurückzuziehen“, sagt der Leiter der Grenzschutzstelle.

Bei 820 DDR-Besuchern hat die Stadt Helmstedt bis Mittag in den DDR-Ausweisen vermerkt, daß sie das Begrüßungsgeld von 100 DM bekommen haben, das auch hier bar ausgezahlt wird. Am Mittag kommen bereits die ersten Besucher wieder zurück: „Wir haben uns die 100 Mark geholt, ein bißchen Einkaufen, ein bißchen Geld behalten. Das reicht doch, Hauptsache es bleibt so“, ruft der Fahrer aus dem Seitenfenster.

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