„Es ist Zeit, auch hier auf die Straße zu gehen“

■ Besuch aus Frankfurt/Oder: Wiedervereinigungsparolen machen DDR-Besuchern Angst, „von einer Bevormundung in die nächste zu geraten“

Aus dem DDR-Fernsehen erfuhr das Ehepaar P. aus Frankfurt an der Oder am Donnerstag: Die Mauer ist offen. Das erste Wochenende danach nutzten die P.'s zu einem Kurzbesuch bei Verwandten in Bremen. Die taz sprach mit beiden, nachdem sie auf dem Postamt Löningstraße das „Begrüßungsgeld“ bekommen hatten.

taz:Wie ist es Ihrer Meinung nach zum Umbruch in der DDR gekommen?

P.:Es ist die Bewegung. Die Menschen haben erkannt, daß sie das Volk sind, und das ist sehr beeindruckend, wenn eine so große Menge sagt: Wir sind das Volk. Und diese Leute haben auch den Eindruck, daß sie etwas bewegen können, und das ist ja auch tatsächlich geschehen. Ich glaube, daß wir uns in einer sehr wichtigen Phase befinden, in der es uns fast ein bißchen zu schnell geht. Die Einsicht, daß es Veränderungen geben muß, ist das eine, das andere ist der Zwang, Veränderungen zuzulassen. Es ist schon interessant, daß diese Regierung versucht hat, den Eindruck zu erwecken, die Wende sei von ihr ausgegangen. Aber das haben die Massen und danach die Partei erkannt, daß der Anstoß von der Straße gekommen ist.

Welche Perspektiven gibt es für die DDR?

Ich glaube, daß die Freizügigkeit bleiben wird. Ich glaube auch, daß die DDR ein eigenständiger Staat bleiben wird, ich halte das auch für gut so: Ich kenne nur sehr wenige Leute, die für die Wiedervereinigung sind. Vielleicht können auch nur zwei gleichberechtigte Staaten gut miteinander auskommen. Eine Vermischung beider Gesellschaftssysteme hielte ich nicht für gut. Das Entscheidende ist, daß beide Staaten sich anständig begegnen.

Hat es sich in der DDR herumgesprochen, daß diejenigen, die in der BRD bleiben wollen, damit rechnen müssen, in Bunkern einquartiert zu werden?

Von Bunkern weiß ich nichts, aber daß es langsam kritisch wird, ist uns bekannt. Ich kann diese Leute auch nicht mehr richtig verstehen, daß sie jetzt noch gehen, glaube aber, daß sich das jetzt normalisiert. Da ist erstmal ein Ventil aufgegangen und vieles aus dem Tag heraus entschieden worden. Vielleicht wäre alles anders gelaufen, wenn wir mehr Informationen über die BRD gehabt hätten. Hier ist doch vieles zu optimistisch gesehen worden.

Wie sieht das BRD-Bild in der DDR aus?

Das Bild entsteht im wesentlichen durch das bundesdeutsche Fernsehen und durch die Leute, die reisen konnten. Es gibt viele, die das realistisch einschätzen, aber auch viele, die das zu optimistisch sehen.

Wie stellen Sie sich die DDR der Zukunft vor?

Ich glaube, daß demnächst alle politischen Parteien und Gruppierungen hier zur Wahl stehen werden. Es wird ein neues Wahlgesetz geben, das freie und geheime Wahlen vorsieht. Und es ist zugesagt worden, daß eine öffentliche Kontrolle in jeder Phase stattfinden kann. Ich glaube auch, daß die Bürger in der DDR so weit politisch aktiviert sind, daß sie das auch tun werden, so daß ein Wahlbetrug sicher ausgeschlossen bleiben wird. Unsere führende Partei hat erkannt, daß eine Regierung mit dem Volk auch Stabilität bringt und daß das Regieren gegen das Volk sie in diese Situation hineingebracht hat.

Viele Politiker jonglieren zur Zeit mit der „Wiedervereinigung“. Haben Sie Angst vor dieser Vereinnahmung?

Ich finde diese Reaktionen in der Bundesrepublik sehr bedauerlich. Ich kenne sehr viele Leute, die Angst haben, daß wir von der einen Bevormundung in die andere kommen könnten, daß durch die wirtschaftliche Stärke der Bundesrepublik und die Öffnung der Grenzen ein Einfluß in unser Land kommt, den wir gar nicht wollen. Ich bin der Überzeugung, daß die große Mehrheit der DDR-Bürger die positiven Seiten des Sozialismus bewahren wollen. Ich kann mir vorstellen, daß der Sozialismus mit mehr Demokratie und mehr Menschlichkeit einmal über Ihrer Gesellschaft stehen könnte, aber das hängt davon ab, was die Leute draus machen.

Glauben Sie, daß sich das Rüstungsklima jetzt mildern wird?

Es ist an der Zeit, daß in der Bundesrepublik auch die Leute auf die Straße gehen und sagen: „Wir wollen jetzt konkrete Schritte haben“ und nicht bloß warten, bis die Politiker etwas tun. Wir haben da einiges getan. Vielleicht müßte hier auch mal etwas getan werden. Ich glaube nicht, daß die militärische Konfrontation beseitigt ist, weil sich im Sozialismus etwas tut.

Es kursieren Spekulationen, daß arbeitslose bundesdeutsche Ärzte möglicherweise in der DDR arbeiten sollen. Halten Sie so einen Austausch für realistisch?

Ich finde diese Idee sehr gut, und wenn gerade so viel so unbürokratisch umgesetzt wird, warum soll hier kein Weg möglich sein. Warum soll auf der einen Seite einer sitzen, keine Arbeit haben, auf der anderen Seite wird er gebraucht. Es gibt ja auch Angebote aus der Volksrepublik Polen, daß Ärzte von dort in der DDR arbeiten. Wir haben schon vor zwei, drei Jahren von einem Problemstau in der DDR gesprochen, ohne daß die entscheidenden Leute etwas getan haben. Inzwischen bin ich optimistisch.

Vielen Dank.

Int.: ra, mad