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PRIMA LEBEN UNTERM STIEFEL

Montagsexperten kommen zu Wort: Enno Bohlmann/West  ■ Ü B E R L E B E N S B Ö R S E ‘ 8 9

Zugegeben, wir haben unschöne, um nicht zu sagen nachgerade häßliche Szenen in den letzten Tagen erlebt. Wer erinnert sich nicht mit Grauen an das Egon-Krenz -Gedächtnisschaulaufen an allen Grenzübergängen, das von den wahren Berlinern heftig beklatscht und bejohlt wurde. Etwaige Nörgler bekamen unverzüglich Platzverweis erteilt. Oder denken wir nur an die Volksfeste auf den Straßen enthemmte Menschen griffen zur Flasche und später zum deutschen Gesang: „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ und anderes Bumsfallera. Widerlich auch einzelne Szenen, die sich in aller Öffentlichkeit abspielten. Vor einer einschlägig bekannten Neuköllner Abfüllkneipe kam es zu abstoßendem Fraternisierungsgebahren: „Ich bin kein Istler, ich bin ein Deutscher.“

Wer einen Blick in die Geschäfte wirft, dem muß vor der Zukunft angst und bange werden. Die Bananenstände und die Beate-Uhse-Shops (hat ja auch mit Bananenständern zu tun) sind hoffnungslos überfüllt, beim Sexkaufhaus in der Potsdamer Straße geht es zu wie im Taubenschlag. Nur die Buchhandlungen sind so leer wie immer. Inzwischen hat sich auch eine typisch westdeutsche Abstaubermentalität breitgemacht. Folgenden Dialogfetzen konnte ich in der Zeitschriftenabteilung eines Kaufhauses aufschnappen: „Komm, laß uns weitergehen, die muß man bezahlen.“

Noch verachtenswerter aber das generöse Offenhalten Westberliner Geldbeutel: Man will den armen Hinterwäldlern aus'm Osten mal zeigen, was ein richtiger Wohlstand ist. Großzügig herablassend läßt man ein Mittagessen und noch ein Bier hinterher springen. So freigiebig kann es im freien Teil der Stadt zugehen. Wir werden denen schon zeigen, was Freiheit heißt und lassen sie auch mal shopping machen.

Am widerwärtigsten vielleicht jene Szene vom Donnerstag aus dem Bundestag: Die Abgeordneten erheben sich geschlossen und stimmen spontan und aus vollem Herzen das Lied der deutschen Großmannssucht an. Zugegeben, es hat unschöne Szenen gegeben, aber am Freitag abend wurde ein klasse Trostbonbon serviert. Ein deutscher Altmännergesangverein (Brandt, Diepgen, Genscher, Kohl, Momper, Wohlrabe) krächzt im gleißenden Scheinwerferlicht erneut das Lied der Ekeldeutschen, aber sie werden von der zwanzigtausendköpfigen Menge unerbittlich niedergepfiffen. Die schönste Hinrichtung einer Nationalhymne seit Hendrix „Star Spangled Banner“ in Woodstock. Ein Bild, das für vieles entschädigt.

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