FMLN-Offensive in San Salvador

Die Befreiungsfront Farabundo Marti (FMLN) begann am Samstag abend einen Großangriff auf Militärkasernen / Explosionen und Gefechte in allen Teilen der Hauptstadt / Armeesoldaten schießen bei ihrer Suche nach flüchtigen Guerilleros auf alles, was sich bewegt  ■  Ralf Leonhard aus Managua

San Salvador befindet sich im Kriegszustand. Der Großangriff auf die salvadorianische Hauptstadt, über den seit Tagen gemunkelt wurde, begann am Samstag nach Einbruch der Dunkelheit. Stadtkommandos der Befreiungsfront Farabundo Marti (FMLN) attackierten zwischen acht und zehn Uhr abends alle militärischen Ziele von Bedeutung in San Salvador. Die Kasernen der 1. Infanteriebrigade, der Nationalpolizei, der Nationalgarde und der Finanzpolizei, die alle mit der blutigen Repression gegen die Gewerkschaften in Zusammenhang gebracht werden, wurden unter Beschuß genommen. Der Untergrundsender Radio Venceremos meldete in einer ersten Bilanz, daß 27 Militärs getötet oder verletzt worden seien, darunter ein Major.

Ganz San Salvador war in der Nacht auf Sonntag Kriegsschauplatz. Während die FMLN-Kommandos Polizeistationen von Zacamil im Norden und Montserrat im Süden der Stadt angriffen, kreiste eine A-37-Kampfmaschine der Luftwaffe über dem östlichen Vorort Soyapango und beschoß nach Augenzeugenberichten die Wohnviertel, wo flüchtige Guerilleros vermutet wurden. Im Umkreis der Luftwaffenbasis Ilopango wurden Passanten massenweise festgenommen. Vor der Präsidentenresidenz im Nobelbezirk Escalon, die allerdings von Staatschef Alfredo Cristiani noch nicht bewohnt wird, soll nach Angriffen der FMLN ein Soldat gefallen sein.

Während über den Armeesender Radio Cuscatlan ständig beschwichtigende Botschaften kommen, daß die Situation unter Kontrolle sei, werden aus allen Stadtteilen Explosionen und Gefechte gemeldet. Der Nachthimmel wurde immer wieder durch Leuchtraketen der Armee gespenstisch aufgehellt. Das Rote Kreuz, das alle 15 verfügbaren Ambulanzwagen auf die Straße geschickt hat, konnte in den ersten Stunden neun Zivilisten mit Schußverletzungen bergen. Es handelt sich vorwiegend um Personen, die von den Kampfhandlungen überrascht wurden und nicht mehr nach Hause kamen, als der öffentliche Transport um 21 Uhr eingestellt wurde. Die zivilen Opfer gehen nach Berichten der lokalen Rundfunkstationen in erster Linie auf das Konto der nervösen Militärs, die auf alles, was sich bewegt, das Feuer eröffnen. Auch eine Gruppe von Journalisten, die sich der 1. Infanteriebrigade angenähert hatten, wurde von Soldaten beschossen.

Die Attacken der FMLN mögen aus militärischer Perspektive wenig bewirken. Doch kommt es den Aufständischen wohl in erster Linie auf den psychologischen Effekt an, beweisen sie doch, daß sie imstande sind, auch die völlig militarisierte Hauptstadt jederzeit zum Kriegsschauplatz zu machen. Sie wollen unterstreichen, daß der Krieg nicht durch einen Waffenstillstand und Amnestie für die Guerilleros beendet werden kann, sondern die Regierung über kurz oder lang um politische Konzessionen nicht herumkommt, wenn sie Frieden schaffen will. Die FMLN hat ihre Angriffe verstärkt, nachdem die Regierungsdelegation bei der jüngsten Verhandlungsrunde in Costa Rica auf Reformen und Säuberung der Armee als Vorbedingungen für einen Waffenstillstand nicht eingehen wollte. Kurz nach dem ergebnislosen Treffen waren die Volksorganisationen, die mit der Guerilla sympathisieren, Ziel terroristischer Anschläge, die die Handschrift der Sicherheitskräfte trugen.