Wiedervereinigung - noch nicht

■ Der ehemalige Professor am Institut für „Advanced Study“ plädiert für eine neue Ordnung in Europa

George Kennan

Die derzeitigen Veränderungen in Zentral- und Osteuropa sind kurzfristig, irreversibel und epochal im wahrsten Sinne des Wortes. Sie markieren das Ende eines Status quo, der in den meisten dieser Gebiete seit vier Jahrzehnten existiert, in der Sowjetunion ganze sieben. Man kann mit Sicherheit behaupten, daß Europa nie mehr so aussehen wird wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs - seine Zukunft hängt von der staatsmännischen Größe ab, mit der die vielen beteiligten Regierungen sein neues Gesicht gestalten.

Für die USA wie für die großen Kräfte sowohl der Nato als auch des Warschauer Paktes beinhaltet diese Situation zwei große und komplexe Probleme, und es ist äußerst wichtig, daß ihre Lösungen nicht miteinander vermischt werden.

Das erste ist ein kurzfristiges Problem: ausreichende Stabilität in Zentral- und Osteuropa in den nächsten Wochen und Monaten zu gewährleisten, um allen eine gründliche und solide Vorbereitung auf das zweite, langfristige Problem zu ermöglichen. Das zweite Problem kann nicht mit einem einzigen Satz beschrieben werden, es ist zu ausgedehnt und vielschichtig. Denn es ist nicht nur ein neuer Status quo für Zentral- und Osteuropa erforderlich, sondern auch die Erarbeitung eines neuen politischen, ökonomischen und sicherheitspolitischen Rahmens für den europäischen Kontinent. Die alten Konzepte, tief geprägt von den Vorstellungen des kalten Krieges, sind nicht länger anwendbar.

Dieses Problem ist, wie der frühere Kanzler Helmut Schmidt kürzlich bemerkt hat, primär eines der Europäer selbst. Die Vereinigten Staaten können deren Verantwortung nicht übernehmen, sie sollten es nicht einmal wollen. Aber eine zentrale Komponente dieses Langzeitproblems wird auch die Zukunft der Nato sein, und die USA können als Führungsmacht in diesem Pakt ihre Beteiligung nicht vermeiden.

Das Problem ist überwältigend in seiner Reichweite und Schwierigkeit. Es beinhaltet die politische und wirtschaftliche Beziehung von Osteuropa zur EG, die Zukunft von Nato und Warschauer Pakt, die derzeitige militärische Situation in Zentraleuropa, die verschiedenen, noch laufenden Verhandlungen über das Gleichgewicht konventioneller Rüstung in Europa, das Verhältnis der beiden Teile Deutschlands zueinander und die Haltung, die man gegenüber der Möglichkeit und Wünschbarkeit ihrer Vereinigung einnehmen sollte.

Diese Fragen sind Teile eines Ganzen. Keine von ihnen kann isoliert beantwortet oder nur sinnvoll behandelt werden. Ihre Lösung wird umfassender Studien, ausführlicher, vorbereitender Diskussionen und schließlich langer Verhandlungen bedürfen.

Die auf der Hand liegenden Fragen sind von bemerkenswerter historischer Tiefe. Wer sich mit ihnen beschäftigt, wird auf Fragen stoßen, die am Ende des letzten Weltkriegs hätten besser beantwortet werden müssen, als sie es wurden; und auf andere, die (infolge des Zusammenbruchs des österreichisch -ungarischen Kaiserreiches) schon 1918 und 1919 ungelöst blieben. Der Plan eines neuen Europas ist derart komplex und grundlegend in seinen Implikationen, daß er weder zu einem bestimmten Zeitpunkt noch in einer bestimmten Vereinbarung oder einem einzelnen Dokument seinen Ausdruck finden kann es geht hier um ein Gebäude, das viele Fundamente braucht. Sein Aufbau wird nicht Monate, sondern Jahre benötigen.

Es ist keineswegs zu früh, mit diesbezüglichen Überlegungen zu beginnen, aber es ist auch wichtig, sich von der momentanen Aufregung nicht zu übereilten Debatten oder sogar Entscheidungen hinreißen zu lassen, die vorschnell ein entscheidendes Urteil in einer dieser wesentlichen Fragen präjudizieren.

Das beste Beispiel für diese Gefahr ist der lockere Ton, der für die Diskussionen über eine deutsche Wiedervereinigung in den letzten Tagen bezeichnend ist. Viele Leute sprechen darüber, als handele es sich um etwas, das ganz selbstverständlich aus der radikalen Liberalisierung in Ostdeutschland folgt. Aber diese Sichtweise wird der Schärfe des Problems keineswegs gerecht.

Es gibt derzeit über eine Million Soldaten auf deutschem Gebiet, ausgestattet mit modernster Technik und, im Falle der nordamerikanischen bzw. sowjetischen Armee, sowohl mit nuklearen als auch konventionellen Waffen. Diese Streitkräfte sind dort nicht nur aufgrund deutscher Interessen, sondern auch aufgrund detaillierter und langfristiger Vereinbarungen mit anderen Mächten. Die Deutschen könnten ihre Streitkräfte nicht einseitig abrüsten oder gar verschwinden lassen. Noch weniger könnten sie im Alleingang die vertraglichen Rahmenbedingungen für die Präsenz der Militärs ignorieren. Das Profil dieser Streitkräfte, und zwar im Westen wie im Osten, ist mittlerweile Verhandlungsgegenstand von 28 Staaten. Eine deutsche Wiedervereinigung ist ohne weitreichende Vereinbarungen zwischen all diesen Parteien bezüglich der Disposition und politischen Kontrolle dieser Streitkräfte undenkbar.

Es ist kaum zu leugnen, daß das Bündnissystem, auf dem die europäische Sicherheit in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten beruht hat, mit rasanter Geschwindigkeit obsolet wird, denn es wurzelt in Vorstellungen des kalten Krieges, die heute die meisten von uns als überholt betrachten.

Dies beinhaltet die Notwendigkeit alternativer Rahmenbedingungen für die Sicherheit des ganzen europäischen Kontinents. Im Zentrum dieser Suche nach einer Alternative muß Deutschland stehen. Deutschland ist der Sammelpunkt der mit Abstand größten militärischen Konzentration auf dem Kontinent. Seine geographische Position und seine wirtschaftliche Kraft geben ihm eine zentrale Position in jeder möglichen Sicherheitskonzeption. Die Probleme, die sich in der Beziehung der beiden deutschen Staaten zueinander wie zu ihren Nachbarn ausdrücken, können nur im Blick auf neue, vermutlich größerräumige Rahmenbedingungen der Sicherheit gelöst werden.

Das Prinzip, von dem die meisten von uns sich leiten ließen, als wir vor nunmehr 40 Jahren mit der Frage der Zukunft Deutschlands konfrontiert wurden, war: daß es kein vereintes Deutschland mehr geben dürfe, und vor allem keines, das militarisiert und isoliert dastünde, nicht sicher eingebunden in größere internationale Strukturen Zusammenhänge, die seine Energien absorbieren und seinen Nachbarn Sicherheit garantieren würden. Aber wenn Deutschland in solche Strukturen eingebunden werden soll (und die Möglichkeiten dazu sind heute größer, als sie es vor vier Jahrzehnten waren), dann taucht die Frage auf, ob Deutschland in diesen Strukturen als Einheit eingebunden werden soll? Oder wäre es nicht besser, wenn die beiden Teile dieses Landes kulturell und ökonomisch vereint, aber politisch weiterhin als zwei Entitäten in diesen Zusammenhängen stehen sollen?

Genau diese Fragen sind es, die für die Planung der europäischen Sicherheit gestellt und beantwortet werden müssen; und der eine Prozeß darf den jeweils anderen nicht bestimmen. Selbst wenn die politische Liberalisierung in Osteuropa zukünftig an einen Punkt gelangen sollte, der dem Status quo der BRD sehr ähnelt, wäre dies noch kein Grund für eine deutsche Wiedervereinigung; und jetzt ist keinesfalls der richtige Zeitpunkt, diese Frage weiter zu entwickeln.

Derzeit müssen wir beobachten, wie sich die Veränderungsprozesse in den Ländern Osteuropas durchsetzen und wie ihre Beziehungen zur Sowjetunion, die an diesen Veränderungen beteiligt ist, sich entwickeln, so daß Zeit für den sehr viel mühsameren und längerwierigen Prozeß gewonnen werden kann, an dessen Ende eine neue europäische Ordnung steht.

Der beste Beitrag, den die USA und seine führenden Streitkräfte der Nato dazu leisten können, ist die Verstärkung ihrer Bemühungen, die konventionelle Rüstung in Europa weitgehend abzubauen. Es gibt keinen Grund, warum die Waffenarsenale, die heute bereits jede Notwendigkeit in beiden militärischen Blöcken übersteigen, nicht deutlich reduziert werden sollten. Das allein würde schon die Atmosphäre für eine Neudefinition der zukünftigen europäischen Verteidigung schaffen.

Eine elementare Bedingung für einen Fortschritt in diese Richtung wäre, daß die Nato endgültig den dummen Glauben aufgibt, sie hätte sich gegen eine militante Sowjetunion und deren getreue Verbündete zu verteidigen. Wir müssen statt dessen nach Wegen der Sicherung eines Europas suchen, dessen großer Feind nicht mehr die Sowjetunion ist, sondern die Zerstörung unseres Planeten.

The Guardian, 13.11.89