: Die Russen kommen
Zu den Vorschlägen über ein neues sowjetisches Reisegesetz ■ K O M M E N T A R E
Zur Kultur West-Berlins hat sie immer gehört, die Angst, daß die Russen kommen. Nun werden sie wirklich kommen, die Russen. Und niemand wird sie aufhalten können; keine Rosinenbomber werden nützen, und kein Regierender Bürgermeister wird noch die Muße zum Pathos haben und die Völker dieser Welt darum bitten, auf diese Stadt zu schauen. In der Sowjetunion wird in absehbarer Zeit ein neues Reisegesetz verabschiedet werden, das auch längeren Auslandsaufenthalt und mithin Arbeit im Ausland gestatten wird. Die Rede vom Wohlstandsgefälle ist so ein schönes, harmloses Wort. Aber unter dem Druck des Massenelends und der Massenverarmung im Osten wird dieses Wort seine Wahrheit zeigen: Katarakte von Menschenmassen werden sich durch das Gefälle ergießen, und der Strom wird nach Berlin gehen.
Der widerwärtige, gehässige Streit um den Polenmarkt, die Bürgerinitiativen der Sauberkeit und die Pressekampagnen gegen den polnischen Schmutz werden nur ein Vorspiel sein. Es ist absehbar: Es wird neben dem Polenmarkt alsbald ein Sachsenmarkt und ein Russenmarkt entstehen. Mit Zollkontrollen ist die Ost-West-Mischung nicht mehr aufzuhalten, es sei denn, man will Warteschlangen bis nach Poznan und Chaos in den europäischen Zugplänen. Berlin wird zur Drehscheibe einer innereuropäischen Wanderungsbewegung, ein verschärfter Fall einer multi-kulturellen Gesellschaft. Es ist besser, wenn die Berliner sich gleich darauf vorbereiten, daß der Traum einer westdeutschen Deo-Kultur ausgeträumt ist.
Die Zeit ist vorbei, daß in Berlin unter dem Begriff Mitteleuropa nur die Begegnungen der kulturellen Sublimation Osteuropas verstanden werden. Es wird zur Begegnung mit den wirklichen Menschen und ihren wirklichen Nöten kommen. Blitzschnell wird es sich entscheiden, ob Berlin zum vorgeschobenen Fort der Festung Europa wird oder zu einer Stadt, die die ökonomische Abschottung der EG aufbricht. Lösungen, Ideen sind gefordert. Zum Beispiel, wie wäre es mit einer Freihandelszone dort, wo die Sperrzone entlang der Mauer sich befindet?
Klaus Hartung
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