: Wolf kritisiert SED
■ Ex-Spionagechef der DDR, Markus Wolf, zum Reformplenum der SED / Papier vom 9. November 1989
Berlin (taz) - Der folgende Text ist eine Woche alt - bei dem Tempo der DDR-Entwicklung eine lange Zeit. Er stammt aus der Feder von Markus Wolf, dem früheren Spionagechef. Seine Klage über die Rückzugspolitik der „alten-neuen Führung“ der SED ist durch die Öffnung der Mauer erst in einem Punkt widerlegt.
Die Avantgarde der Erneuerung der Partei sind unsere jungen Genossen. Das für mich Entscheidende am 8.11. spielte sich vor dem Gebäude des ZK ab. Hier war und sprach die Zukunft der Partei. Im Tagungssaal waren die Genossen noch in den alten Strukturen und die meisten noch in den alten Denkweisen eingebunden. Die alte-neue Führung setzte das traurige Spiel der letzten Wochen fort, wich mit dem Rücken an der Wand Schritt um Schritt von den drängenden Forderungen der Parteibasis zurück, wie vorher dem Druck der Straße. Mit Mühe wurden ihr Bekenntnis zur Verantwortung und den Ursachen dieser schweren Krise unserer Partei und des Landes abgerungen. Von diesem ZK war mehr nicht zu erwarten. Es ist nur zu hoffen, daß mit dieser provisorischen neuen -alten Führung die Zeit bis zum Parteitag ohne weiteren Vertrauensschwund überbrückt werden kann. Die unter diesen Umständen zustande gekommenen Beschlüsse des Zentralkomitees müssen von der ganzen Parteibasis, vor allem den jungen Genossen, die als erste eine so erfrischende Sprache gefunden haben, auf dem Weg zur Parteikonferenz ausgefüllt und mit zunehmenden Druck zur echten Erneuerung der Partei und ihrer Strukturen ergänzt werden.
Der Aufbruch braucht neuen Atem und neue Kräfte. Sie sind überall. Wir haben sie gesehen und gehört. Sicher lag es am Ausgangspunkt der Initiative des 8.11. und am Ort, daß die jungen Wissenschaftler und Studenten in der Überzahl waren. Die jungen Arbeiter, die gesprochen haben, drückten eindrucksvoll auf ihre Art das Gleiche aus. War es nicht in der Geschichte der Arbeiterbewegung immer so, daß der beste Teil der Intelligenz beim revolutionären Aufbruch die Interessen der Arbeiterklasse formulierte und vertrat? Wie stolz war ich am 8. auf unsere jungen Wissenschaftler, die einer nach dem anderen ans Mikrofon traten. Von vielen weiß ich, daß sie über weitgehend durchdachte und ausgereifte Konzeptionen eines modernen Sozialismus verfügen, welche die Interessen der Arbeiterklasse genauso beinhalten wie die Notwendigkeit ihres Bündnisses mit der Intelligenz und allen anderen Schichten des Volkes.
Wie sehr haben diese Genossen auf den Generalsekretär und sein Wort gewartet. Und wie sehr wurden sie enttäuscht. Weiter wirken wird ihr Ruf „Wir sind die Partei“. Sie haben die Sprachlosigkeit überwunden und werden nun auch auf den Straßen und Plätzen, wo der Ruf erschallt „Wir sind das Volk“, um die Position ihrer Partei kämpfen. Sie haben für die Genossen im ganzen Land ein Beispiel gegeben. Diese Partei ist mit dem Volk im Aufbruch. Sie ist wieder da und ist nicht der schlechteste Teil des Volkes.
Diese jungen Genossen müssen den Verlauf und Ausgang der Parteikonferenz bestimmen, gemeinsam mit jungen Delegierten der Arbeiterklasse und der Bauern. Wir Älteren werden ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen, ihnen aber den Vortritt lassen. Einen Jürgen Kucynski oder Markus Wolf braucht man nicht in ein neues ZK zu wählen. Wir sind auch so da.
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