: Gründerjahre
Ein laienhafter Versuch, einmal im Leben Realist zu sein ■ E S S A Y
Wer nachts auf DDR-Autobahnen fährt, hat es oft erlebt: Man fährt links und überholt rechts. Das ist nicht die realsozialistische Alternative zur westdeutschen Regelung, bei der der Fortschritt links stattfindet. Es ist die einzig vernünftige Antwort auf den Zustand der volkseigenen Autobahnen. Die rechte Spur ist in den letzten Jahrzehnten so beansprucht und so wenig repariert worden, daß auf ihr schüttelfreies Fahren nicht mehr möglich ist. Also wird sie ganz und gar illegal nur noch für sekundenkurze Überholmanöver genutzt. Eine kluge Regierung würde den gesunden Menschenverstand der Fahrer einfach legalisieren und könnte so noch zwei bis drei Jahre beim Autobahnbau sparen.
Nicht alle Probleme der DDR ließen sich so leicht lösen. Das zugrundeliegende Prinzip aber wird das einzige sein, das der Führung - wer immer sie in den nächsten Jahren stellen mag - hilft, die DDR aus ihrem miserablen Zustand herauszubringen. Man wird dazu übergehen müssen, die geschmähten Privatinitiativen nicht nur zu legalisieren, sondern sie sogar zu fördern. Nicht, weil man für den Kapitalismus ist, sondern weil man dafür ist, daß überhaupt etwas gemacht wird. Die DDR ist am Ende. Der Typus des sich duckenden Befehlsempfängers wird schon aus volkswirtschaftlichen Gründen ein paar Jahre lang keine Chance haben. Oppositionelle, die, wenn sie den Mund auftun wollen - also zum Beispiel eine Zeitung oder Zeitschrift herausgeben möchten -, erst einmal bei der Regierung nachfragen, ob das denn erlaubt sei, werden die letzten sein, die die Entwicklung vorantreiben.
Die Entscheidung, den Einwohnern der DDR die Ausreise zu gestatten, ist ein Stück Normalisierung. Sie wird aber zu einer völligen Veränderung der Situation führen. West-Berlin wird im Laufe des kommenden Jahres, wenn die Reisegesetze der DDR nicht geändert werden, zum größten Trödelmarkt der Welt werden. Die Bevölkerung der DDR wird, was nicht niet und nagelfest ist, in den Westen abschleppen, um hier endlich Geld zu verdienen, mit dem sie sich etwas kaufen kann.
Die nächste Etappe werden die Werktätigen Polens und der DDR einläuten. West-Berlin wird ein Überangebot billigster, gut qualifizierter, enorm motivierter Arbeitskräfte haben. Es ist eine Frage von wenigen Monaten, bis das nicht nur die Dienstleistungs- und Bau-, sondern auch die Fertigungsbetriebe begriffen haben. Die Hongkongisierung West-Berlins wird nicht mehr aufzuhalten sein. Das hier verdiente Geld werden die Pendler aus der DDR und Polen überwiegend auch hier ausgeben. Soweit, so gut. Die Pointe der Geschichte liegt aber in den volksdemokratischen Ländern.
Die Arbeitskräfte werden einen Teil ihrer DM (West) mit in ihre Länder nehmen. In der DDR wird der Teil der Volkswirtschaft, in dem man nur noch mit DM (West) bezahlen kann, rapide wachsen. Wenn es heute in Schwerin schwierig ist, einen Handwerker für DDR-Mark zu bekommen, so wird Ende nächsten Jahres der gesamte inoffizielle Handel in DM abgewickelt werden. Im selben Tempo wird der Anteil des Schwarzmarktes am Gesamtwarenumsatz rapide zunehmen. Man wird immer weniger Waren offiziell bekommen, weil jeder versuchen wird, möglichst viel in Westgeld zu verdienen. Beim Weg vom Schaf zum Pullover wird an jeder Stelle abgezwackt für den Schwarzmarkt.
Was die Bevölkerung der DDR sich auf dem Trödel an Devisen zurückholt von dem Geld, das ihre Regierung ihr seit Jahrzehnten weggenommen hat, wird ein Klacks sein im Vergleich zu den Dimensionen, in denen die Regierung den Ausverkauf der DDR betreiben wird. Als echte Feudalherrschaft wird sie Land und Bevölkerung vermieten und verkaufen. Man wird feinere Namen dafür finden. Die Sanierung der Leuna-Werke etwa wird ein solches Großprojekt sein, bei dem die Regierung der DDR ein bestimmtes Terrain mit der darauf arbeitenden Bevölkerung dem Hoechst-Konzern für sechs bis zehn Milliarden für zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre zur freien Verfügung überläßt. Vorausgesetzt, es tut sich nichts in der DDR.
Die derzeitige Perspektive ist klar: Die DDR wird von der Bundesrepublik, und das heißt von der bundesrepublikanischen Industrie saniert, und zwar zu den Bedingungen der BRD und ihrer Industrie. Ein Finanzminister, der wie der der DDR sich vor das Parlament stellt und erklärt, er habe einen Schwindelhaushalt vorgelegt, bei dem Kreditgelder als Einnahmen verbucht wurden, hat jeden Kredit verspielt. Nicht nur bei der Bevölkerung, sondern auch - und das wiegt schwerer - bei den Kreditgebern. Schließlich sollten in erster Linie ja sie getäuscht werden. Die 130 Milliarden Mark Schulden sind kein gutes Argument für neue Kredite. (Zum Vergleich: Eines der höchstverschuldeten Länder der Welt, Brasilien, steht mit 120 Milliarden Dollar in der Kreide.)
Die Situation der DDR-Wirtschaft hat sich in den letzten Jahren katastrophal verschlechtert. Vor zehn Jahren habe man, so die Zahlen des Finanzministers der DDR, 2,40 DDR -Mark für eine West-Mark erwirtschaften müssen, heute sei man bei 4,40 DDR-Mark angekommen. Die damals gekauften Devisen müssen heute also zum doppelten Preis zurückbezahlt werden. Die Zahlen dürften noch immer eher schmeichelhaft für die DDR sein. Der für die Devisenbewirtschaftung der DDR zuständige Gerhard Schürer erklärte den Abgeordneten, er könne „zur Verschuldung gegenüber dem nicht sozialistischen Wirtschaftsbereich“ keine Angaben machen. Diese Daten seien „geheime Verschlußsache“.
Ein Land in dieser Situation hat keine Bedingungen mehr zu stellen. Wir kennen das aus der Dritten Welt. Die DDR ist, anders als hier viele glauben, kein moderner Industriestaat. Sie ist zurückgefallen auf den Status - betrachtet man es freundlich - eines Schwellenlandes. Selbst das gilt nur, wenn man ausgeht von der Comecon-Situation. Sobald aber Polen, Ungarn, die CSSR und die Sowjetunion sich im Westen statt bei Robotron versorgen, wird die DDR-Ökonomie weiter absacken.
Die DDR ist ein Teil Deutschlands. Das ist ihre Rettung. Die bundesrepublikanische Industrie wird Mittel und Wege finden - und wenn wir außergewöhnliches Glück haben, wird es Politiker geben, die ihr dabei auf die Finger klopfen -, ein zweites Wirtschaftswunder zu initiieren, die daniederliegende, rettungslos überalterte Industrie der DDR durch modernste Anlagen zu ersetzen. Vorausgesetzt, es wird politisch dafür gesorgt, daß die Milliardeninvestitionen nicht durch Enteignung zunichte gemacht werden, sobald die Rendite zu fließen beginnt.
Es wird keine High-Tech-Industrialisierung der DDR geben ohne Direktinvestitionen. Das freundliche Joint-venture -Gerede ist politische Schlangenklugheit, hat aber mit den neuen Realitäten nichts zu tun. Die Vorstellung, die bundesrepublikanische Industrie werde sich vor der Haustür einen Konkurrenten aufbauen, der in zwanzig Jahren imstande ist, einen Trabi zu bauen, der VW ruiniert, ist absurd. Die Japaner konnte man nicht darin hindern, über die Imitation zum Vorbild zu werden. Der DDR wird man das nicht erlauben.
Wer weiß, welche Rolle Württemberg noch vor dreißig Jahren spielte und welchen Platz es heute in der Ökonomie der BRD einnimmt, der hat in etwa eine Vorstellung davon, was für ein Boom aus einer Randlage folgen kann. Die DDR bietet alle Chancen für einen Take-off ins dritte Jahrtausend. Mitten in Europa werden die Gründerjahre fröhlich-grausige Urstände feiern.
Das wird das Ende vom Ende der DDR sein.
Arno Widmann
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