: Die halbe DDR auf West-Besuch
■ Geordnetes Chaos am zweiten Reisewochenende / Neue Grenzübergänge / Züge zu „400% ausgelastet“
Berlin (taz/ap/dpa) - Niemand kennt die genauen Zahlen, fest steht nur, daß es wieder mehrere Millionen waren. Auch am zweiten Reisewochenende nach der Öffnung der DDR-Grenzen zogen vollgepropfte Trabis, Busse und Züge mit DDR -BürgerInnen zum Kurzbesuch Richtung Westen. Kaum noch ein Dorf in der Bundesrepublik, das keinen Trabi auf dem Marktplatz stehen hat, keine grenznahe Stadt, in der die FußgängerInnen der Einkaufszonen nicht im Stau stecken bleiben. Nach ersten Schätzungen sind an diesem Wochenende 2,5 Millionen DDR-BürgerInnen in die Bundesrepublik und nach West-Berlin gereist. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums sind seit der neuen Reiseregelung vom 9. November rund 4 Millionen DDR-BürgerInnen in die Bundesrepublik gereist. Ebensoviele kamen auf einen Kurz -Trip nach West-Berlin. Statistisch gesehen wäre damit innerhalb von zehn Tagen bereits die halbe DDR -Einwohnerschaft auf West-Besuch gewesen.
Anders noch als am vergangenen Wochenende vollzog sich die jüngste Wochenendreisewelle eher in geordneten Bahnen. West -Berlin erlebte zwar wieder einen gewaltigen Besucheransturm, doch ließen die meisten DDR-BürgerInnen ihre Trabis ostseits der Mauer stehen und fuhren mit öffentlichen Verkehrsmitteln, so daß es nicht zum völligen Chaos kam. An den Grenzen zu Bayern und Niedersachsen sorgten neue Übergänge dafür, daß es nicht zu den befürchteten halbtägigen Staus kam. Durch die mittlerweile 60 Löcher im Eisernen Vorhang verteilten sich die Besucher auch auf verschiedene Städte des Bundesgebiets. An den meisten Grenzübergängen wurde gestern erstmals „normaler Reiseverkehr“ gemeldet. Allein beim Zugverkehr kam es zu dramatischen Szenen, als Reisende über die Gleise rannten und versuchten, die Waggons zu erstürmen. Obwohl die DDR -Reichsbahn am Wochendende 96 Sonderzüge eingesetzt hatte, meldete adn für einige Strecken eine „400prozentige Auslastung der Züge“. Opfer dieser Sardinenbüchsen-Situation wurden so auch zwei uniformierte Angehörige der DDR -Grenztruppen, die zur Überraschung ihrer bundesdeutschen Kollegen erst in Bebra aus dem Zug steigen konnten, weil sie zuvor von den Reisenden „regelrecht eingekeilt“ waren.
Absolute Premiere feierte am Sonntag der Landkreis Lüchow -Dannenberg. Nachdem dort am Samstag früh schon im kleinen Dorf Schmarsau ein erster Übergang geöffnet worden war, durch den stündlich 1.000 DDR-Bürger strömten, wurde gestern in der Elb-Gemeinde Hitzacker erstmals nach 44 Jahren wieder der Fährverkehr mit der DDR aufgenommen. Nach eintägigen Vorbereitungen brachte das DDR-Ausflugsschiff „Drawehn“ am Sonntag um 12.30 Uhr die ersten 300 DDR-BürgerInnen ans westliche Ufer der Elbe. Mehr als 40 Jahre hatten sich Politiker der DDR und der BRD bis zuletzt erbittert darüber gestritten, auf welcher Seite des Flusses die deutsch -deutsche Grenze verläuft. Gestern lagen sich die Einwohner der Elb-Gemeinden aus Ost und West bei Blasmusik und feierlichen Reden jubelnd in den Armen. Nur mit der Ruhe sei es jetzt wohl vorbei, meinten die Einwohner der Atom- und Erholungsregion Lüchow-Dannenberg.
In die allgemeine Reiseeuphorie mischten sich an diesem Wochenende jedoch auch verstärkt Unmutsäußerungen von Bundesbürgern. Einzelhändler klagten vielerorts über ein Ausbleiben der kaufkräftigeren Stammkundschaft. In den Großstädten wie Berlin und Ham Fortsetzung auf Seite 2
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burg zogen sich viele - ob des Gedränges völlig entnervt in ihre Wohnungen zurück. Und auch die neidischen Stimmen über die 100 Mark Begrüßungsgeld werden lauter. In der Lübecker Fußgängerzone kam es am Samstag zu peinlichen Szenen, als Bundesbürger wahllos Bananen in die Menge warfen und sich die DDR-Besucher behandelt fühlten „wie die Affen“.
In Hannover gingen am Samstag die Autos zweier DDR-Bürger in Flammen auf. Unter Berufung auf Augenzeugen meldete die DDR-Nachrichtenagentur 'adn‘, Unbekannte hätten die Heckscheiben der beiden Trabis eingeschlagen und dann Brandsätze in die Autos geworfen. Die Polizei sprach von „Fremdein
wirkung“. Gestern nachmittag setzte für die meisten West -Besucher der allmähliche Rückreiseverkehr ein. Bis Samstag abend entschieden sich jedoch nach Angaben des Bundesinnenministeriums mindestens 1.809 DDR-BürgerInnen, nicht mehr zurückzukehren. Sie stellten einen Übersiedlungsantrag.
Ve.
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