: „Nicht von Wiedervereinigung schwafeln“
■ Grüne Deutschlandpolitik zwischen Sprachlosigkeit und Verunsicherung / Eine Diskussionsveranstaltung der Grünen (fast) ohne Grüne
„Innerhalb der Grünen herrscht“, beklagte sich Lothar Probst auf einer Veranstaltung der Partei zu den Ereignissen in Ost -Berlin, „ein Zustand der Sprachlosigkeit und Verunsicherung, und das in einer Situation, wo die DDR nach langer Zeit ihre Sprache wiedergefunden hat“. Das Bewußtsein über die Verunsicherung langte beim Landesvorstand der Grünen immerhin dafür, eine Woche nach den atemberaubenden und radikalen Änderungen dem Diskussionsbedarf über die deutschlandpolitischen Ideen der eigenen Partei Rechnung zu tragen. Wie wenig man aber dem öffentlichen Disput in den eigenen Reihen über den Weg traut, bewies der Abend im Konsul-Hackfeld-Haus. Der als Moderator angekündigte Lothar Probst fand sich zum eigenen Erstaunen als Alleinunterhalter wieder, niemand wollte oder konnte ihm auf dem Podium zur Seite stehen. Erst nach Ablauf einer Stunde tauchte Vorstands
sprecher Günter Warzewa auf und verwaltete fortan das Rederecht. Von den zehn Bürgerschaftsabgeordneten schaute einer vorbei, schwieg und verschwand vorzeitig.
Man mag das als symptomatisch nehmen für den Verlust an politischer Phantasie, der bei den Grünen seit geraumer Zeit eingekehrt ist und angesichts der rasanten Demokratisierung in der DDR seinen augenfälligen Ausdruck findet. „Die Mauer ist weg, die Grenze muß bleiben“, war die Veranstaltung übertitelt. Eine Formulierung, die der grünen Geschäftsstelle eine Menge erboster Anrufe eingebracht hat. Als blanker Zynismus war gewertet worden, daß Betonmauer und Stacheldrahtzaun auch in Zukunft Ost von West martialisch und mit Billigung der Grünen trennen sollte. Hinter diesem offensichtlichen Mißverständnis aber, so vermutete Moderator/Referent Probst, stecke das weitgehende
Unverständnis gegenüber dem grünen Plädoyer für die Zweistaatlichkeit. Insofern, so sein Anliegen, sollte der Abend „Positionen entwickeln, die sich dem Sog der Wiedervereinigungsformel stellen“. Was folgte war ein Sammelsurium von ganz persönlichen Bekenntnissen zum Stand der nationalen Frage („Wir sollten doch am allerwenigsten von Wiedervereinigung reden, wir haben doch kaum was davon“), von gut gemeinten Ratschlägen („Man könnte doch jetzt den Ökolandbau in der DDR fördern, Leipzig mit genossenschaftlichem Wohnungsbau sanieren und umweltverträglichen Tourismus einführen“) und den gesicherten Erkenntnissen, daß das böse Kapital längst auf der Lauer liegt und mit dem finanziellen Knebel alle Reformvorhaben torpedieren werde („Ich will nicht, daß bundesdeutsche Baufirmen nach Leipzig gehen, auch wenn dann der Zusammenbruch der Stadt
folgt.“). Doch trotz aller Redseligkeit war die Verunsicherung nicht zu vertreiben. Deutlich wurde das, als sich aus dem Publikum zwei Mitglieder von DDR -Oppositionsgruppen zu Wort meldeten und ihre Eindrücke von der laufenden Diskussion zum Besten gaben. „Ihr redet“, sagte eine Frau vom Neuen Forum aus Suhl, „als wären wir ein Teil rRD, mit dem man jetzt machen könnte, was man will. Über Wiedervereinigung haben wir in der DDR noch nicht geredet, da haben wir gar keine Zeit dazu. Wir müssen uns um wichtigere Sachen kümmern, um die Schulen, um Zeitungen, die es sich zu lesen lohnt, um ein attraktiveres Fernsehen.“ „Lassen Sie uns doch mal in Ruhe“ - diese Aufforderung war verlockend und unmöglich zugleich. Verlockend, denn dann hätte die Versammlung sich den innenpolitischen Perspektiven der Grünen zuwenden können, einem Konzept zur Europa
und Deutschlandpolitik, den Vorstellungen von nationaler und staatlicher Identität, den Durchsetzungsmöglichkeiten eines
ökonomischen Hilfsprogram mes, das es der DDR ermöglicht, eigene demokseontureuentwickeln. „Vielleicht können wir Euch aber auch gar nicht mehr in Ruhe lassen“, meinte Zoltan Szankay und spielte auf eine Situation an, deren lokale Ereignisse soviel politische Sprengkraft bergen, daß auch in der Bundesrepublik die bislang gültigen deutschlandpolitischen Grundsätze auf den Müllhaufen der Geschichte gehören. Ob bei den Grünen aus Verunsicherung rechzeitig Konzepte und Visionen entstehen, mit denen die Partei gelassen ins nächste Jahr gehen kann, muß sich bald entscheiden. Fürs erste aber gilt wohl, was der Ostberliner Mitdiskutant vom „Demokratie Jetzt“ zum Schluß der grünen Versammlung empfahl: “ Meinetwegen könnt Ihr ruhig noch ein bißchen sprachlos sein, dann schwafelt Ihr wenigstens nicht von Wiedervereinigung.“
Andreas Hoetzel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen