Wie alle anderen?

■ In Kopenhagen tagten Historiker zum Thema „Hitlerflüchtlinge in Skandinavien“

Ein Fremder hat immer

seine Heimat im Arm

wie eine Wais

für die er vielleicht nichts

als ein Grab sucht.Nelly Sachs

Die Aufgabe der Emigration ist die schwerste, aber auch die wertvollste, die es heute gibt.Martin Andersen-Nexö, 1940

Waren die Schweden in den Jahren 1933 bis 1945 „Arschlöcher wie alle anderen“, wie Tucholsky einst, zermürbt vom ständigen Gezerre um seine Aufenthaltserlaubnis, in seinem südschwedischen Exil notierte? Das kann man wohl sagen, nachdem man einige der Vorträge auf dem Historikersymposium der Universität Kopenhagen zum Thema Hitlerflüchtlinge im Norden gehört hat. So referierte der Stockholmer Exilforscher Helmut Müssener über eine hierzulande kaum bekannte Version der Geschichte des berüchtigten J-Vermerks in den Pässen deutscher Juden. Demnach fürchtete die schwedische wie die Schweizer Regierung eine Massenflucht von Juden in ihre neutrale Obhut, worauf sie „zunächst unabhängig voneinander, später auch gemeinsam mit Berlin Kontakt aufnahmen, um eine besondere Kennzeichnung der Pässe jüdischer Bürger zu erreichen. Der J-Vermerk wurde zwar von den Deutschen eingeführt, doch es gibt sichere Anzeichen dafür, daß er im Einvernehmen mit den Schweden und den Schweizern, möglicherweise sogar nach ein wenig Druck von ihrer Seite, zustande kam. Jedenfalls drohten die Schweden, einen Visumzwang für alle Deutschen einzuführen, sollte es nicht zu einer Kennzeichnung der Juden kommen.“ Wer hätt's gewußt?

Rund 50 Historiker und Zeitzeugen aus beiden deutschen Staaten und Nordeuropa waren in Kopenhagen für drei Tage zusammengekommen, um die Forschung über die Emigration nach Skandinavien zu koordinieren, Neues zusammenzutragen, Altes zu revidieren. Die Alltagsgeschichte des skandinavischen Exils während der Nazizeit, das war ein Eindruck der Tagung, muß noch geschrieben werden; nicht die der Brechts, Weiss‘, Wehners und Brandts, wohl aber die der „einfachen“ Flüchtlinge wie der Raabkes. Anneliese Raabke und ihr Mann, beide aktive Sozialdemokraten aus Kiel, fanden nach 1933 zunächst Aufnahme bei dänischen Genossen. Als am 9.April 1940 deutsche Wehrmachtgeschwader auch über Kopenhagen flogen, kämpften sie sich mit einem Ruderboot durch die Eisschollen des Öresunds nach Schweden. Weil sie Sozialdemokraten waren, Genossen der in Stockholm regierenden SAP, war der Flüchtlingslageraufenthalt der Raabkes nur von kurzer Dauer und erhielten sie später sogar ausnahmsweise eine Arbeitserlaubnis. Anneliese Raabke kehrte erst nach ihrer Pensionierung vor fünf Jahren nach Kiel zurück. In Kopenhagen war sie eine der noch erfreulich zahlreich vertretenen Zeitzeugen.

Die Exilforschung über Skandinavien krankte bisher daran, daß sie jenseits an den Grenzen eines skandinavischen Landes haltmachte, ungeachtet der Tatsache, daß sich spätestens nach dem Überfall auf Dänemark und Norwegen die Flüchtlingsströme innerhalb Nordeuropas ständig hin- und herbewegten (viele Flüchtlinge benutzten die skandinavischen Länder ohnehin nur als Transmigrationsland auf dem Weg nach Palästina oder Amerika). Überdies waren viele wichtige Archive wie das der obersten Sozialbehörde (damals mit Flüchtlingsfragen befaßt) und der Geheimpolizei in Schweden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht zugänglich. Nach 50 Jahren Sperrfrist stehen sie der interessierten Nachwelt jetzt offen.

Wer nicht wie die Raabkes nachweislich deutscher Sozialdemokrat war, konnte in Dänemark wie in Schweden nicht mit großer Hilfe rechnen, ja sogar, wie die Göteborger Historikerin Helene Lööw für ihr Land konstatierte, auf „institutionellen und organisierten Widerstand“ treffen. Schweden 1934: sechs Millionen Einwohner und knapp 1.000 deutsche Flüchtlinge, meist Kommunisten und Sozialdemokraten. Sie wurden an private Flüchtlingskomitees weitergereicht und von ihnen versorgt; die Sozialdemokraten besser von den Gewerkschaftsorganisationen, die Kommunisten schlechter von der ärmeren „Roten Hilfe“. Staatliche Hilfe konnten beide nicht erwarten. Die Politik des „low profile“, des nicht unangenehm in Berlin Auffallens, findet unter der Bevölkerung eine breite Zustimmung, immer wieder warnen auch die Zeitungen davor, Hitlerdeutschland zu provozieren. Als der Flüchtlingsstrom ab 1936 ansteigt, beginnt die schwedische Regierung darin ein „Problem“ zu sehen, volkswirtschaftlich, sozial und vor allem außenpolitisch. Sie stellt klar, daß rassisch Verfolgte ohne politischen Hintergrund kein Asylrecht genießen, und schließt - dann mit Hilfe des J-Vermerks - für Juden aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei die Grenzen. Niemand weiß bis heute genau, wie viele Juden an Schwedens Grenze abgewiesen wurden (auch Deserteure hatten übrigens bis 1943 keine Aussicht, in Schweden als politische Emigranten anerkannt zu werden).

Erst im Herbst 1943, als sich die Niederlage Hitlers langsam abzuzeichnen begann, lockerte Stockholm mit Rücksicht aufs Ansehen bei den Alliierten die restriktiven Einreisebestimmungen. Die deutschen, französischen, österreichischen und norwegischen Kommunisten, die seit Ende der dreißiger Jahre in Sammellagern festgehalten wurden, durften sich plötzlich frei bewegen. Im Oktober 1943 wurden 10.000 dänische und deutsche Juden in einer spektakulären Aktion vor den deutschen Häschern gerettet und nach Schweden gebracht, wo sie alle bleiben durften. Die Liberalität kannte nun fast keine Grenzen mehr, auch flüchtige SS -Schergen und Quislinge aus den besetzten Gebieten fanden Aufnahme. Immerhin trennte man sie in den Auffanglagern vorsorglich von deutschen Linken. Ende 1944 befanden sich dann 200.000 Flüchtlinge auf schwedischem Boden, der überwiegende Teil aber aus Finnland (70.000) und dem sowjetisch annektierten Baltikum (30.000).

Die skandinavische Sozialdemokratie gab in jenen Jahren ein jämmerliches Bild ab, ständig schwankend zwischen ihrer programmatischen Verpflichtung zu Antifaschismus und internationaler Solidarität, die gerade viele ihrer Mitglieder immer wieder einforderten, und ihrer Angst: Angst vor dem Verlust ihrer Regierungsmacht (in Dänemark und Schweden regierten die Mitte-Koalitionen), Angst vor dem Erstarken prodeutscher, autoritärer Stimmungen in der Bevölkerung und Angst nicht zuletzt vor der brutalen Überlegenheit Hitlers. Zweifellos galt ihre Sympathie den Hitlergegnern, und zu den Widersprüchen ihrer übervorsichtigen Politik gehörte, daß sie die Emigranten im Lande in ihren politischen und kulturellen Aktivitäten voll gewähren ließen. Politische Gruppen wie Willy Brandts SAP mußten zwar mehr oder weniger versteckt unter der Schirmherrschaft der Gewerkschaften agieren, dafür gab es an Schwedens Bühnen eine deutsche Inszenierung nach der anderen. Hier Brechts Die Gewerhre der Frau Carrar, dort Kleists Zerbrochener Krug, hier ein Arthur-Schnitzler -Abend, dort eine Aufführung von Nathan der Weise. Ein gutes Dutzend hektographierte deutsche Exilzeitungen kursierten in Stockholm; zum Thema „Wie geht es weiter mit Deutschland?“ wurden mehr als 20 Bücher von deutschen Flüchtlingen herausgegeben. Kommunisten, Syndikalisten und Sozialdemokraten stritten in Schweden so heftig wie überall im Exil, doch man fand sich auch zusammen im „Freien deutschen Kulturbund“, im Geiste der Tradition des deutschen Humanismus, wie es hieß.

Frei gewähren ließen die Schweden aber auch Nazispione, antisemitische Studentenvereine, die gegen die Neuankömmlinge agitierten, und rechten Flüchtlingswiderstand in den Behörden, wo Asylakten mit Bemerkungen wie „Judenschweine gehören ausgewiesen“ verziert wurden. „Feige“ nannte der Rechtswissenschaftler Ake Thulstrup schon 1945 das Verhalten seiner Regierung. Außer bei Tucholsky, der kaum Kontakt mit Schweden hatte, lassen sich solche Urteile in den Hinterlassenschaften deutscher Emigranten in Schweden nicht finden. Ihnen kam es auf die Solidarität der Bevölkerung an, und die erfuhren sie trotz allem. Der Lyriker Hans Reinowski reimte begeistert: „Arm, gehetzt und verzagt / bin ich zu dir gekommen. / Du hast nicht lange gefragt, / hast mich gastfreundlich aufgenommen.“

Selbst diejenigen unter den Teilnehmern der Kopenhagener Konferenz, die den schwedischen Sozialdemokraten damals angesichts der militärischen Bedrohung durch Nazideutschland nicht „Feigheit“ vorwerfen möchten, haben mit einigem Befremden zur Kenntnis genommen, daß sich das Kgl. schwedische Literatur-Nobelpreiskomitee nicht zu einer deutlichen Solidaritätsadresse für Rushdie hat durchringen können.

Gunnar Köhne