: Diese Tage in Leipzig
■ Christof Boy war im Pressetross von Johannes Rau und von Nordrhein-Westfalens Kultusminister Hans Schwier anläßlich der „Kulturpräsentation“ des Bundeslandes eine Woche lang in Leipzig.
Ein Minister marschiert mit. Vorwärts und alles vergessend, was er einst jugendlichen Demonstranten, entgegnet haben mag. Jetzt ist der nordrheinwestfälische Kultusminister selber auf der Straße, getrieben von jener Entschlossenheit, die er sonst in seinen Sonntagsreden so lange emphatisch beschwört, bis sie den Sachzwängen zum Opfer fällt. Hier, in der DDR, darf ein Politiker noch kämpferisch sein, ohne dafür der Unredlichkeit geziehen zu werden. „Waren Sie schon vorn bei der Stasi“, fragt Hans Schwier die entgegenkommenden Journalisten und schlendert montagsdemoerfahren weiter durch die versmogte Innenstadt von Leipzig. „Wir sind das Volk“, schallt es, und der Minister ist mit dem Volk, und das Volk ist in ihm. Ob Hans Schwier heimlich mitgesummt hat, als die Menge vor dem Gebäude der Staatssicherheit „Wir verdienen Euer Geld“ skandierte?
Aber was soll er schon machen in Leipzig? Die Kulturpräsentation des Landes Nordrhein-Westfalen, deretwegen der Kultusminister und Ministerpräsident Johannes Rau höchstselbst in die DDR reisten, mit einem Troß von Journalisten und Künstlern und mit dem höfischen Charme westlicher Überlegenheit, traf ins Schwarze. Ins schwarze Loch des Desinteresses. Welcher Leipziger Bürger mag schon zur Autorenlesung gehen, seitdem der Fahrplan der Deutschen Reichsbahn reine Poesie ist, wer will sich in die Theaterloge quetschen, während die Straße zur Bühne wird, oder durchs Museum schlendern, wo draußen die Mauer zum musealen Gesamtkunstwerk aufrückt.
Vielleicht war es ganz gut so. Denn nach der Absage des damals noch praktizierenden Honecker und der darauf folgenden neuerlichen Einladung nach Leipzig, sah es so aus, als wolle Wendehals Krenz den DDR-Bürgern die Kultur von Rhein und Ruhr als Beruhigungsmittel verschreiben - nach dem Motto: die Kunst heilt alle Wunden. Das daraus nichts wurde, erspart NRW die Rolle als Reklametafel für den real existierenden Sozialismus, läßt aber den rosaroten Kulturluftballon, den Schwier für 1,5 Millionen DM aufgeblasen hat, durch die Luft trudeln, als habe ihn jemand in böser Absicht angepiekst.
Nun, da die nordrhein-westfälischen Politiker nicht mehr auftreten können wie Missionare, die etwas mitbringen, was bis dahin nie oder nur selten in der DDR zu sehen war, sind sie plötzlich selber die Lernenden. Lernen können die Gäste aus Nordrhein-Westfalen zum Beispiel, daß es auch ohne Reisefreiheit eine Kunstszene in der DDR gab, die im Westen nur niemand wahrnehmen wollte. „Es entsteht das Gefühl, als seien wir kleine Urmenschen, die hier noch leben und nun von allen Seiten zivilisiert werden sollen,“ sagt eine Kunststudentin von der Hochschule für Graphik und Buchkunst. Die Studenten der Hochschule und die Besucher der Ausstellung „Zeitzeichen - Stationen Bildender Kunst in Nordrhein-Westfalen“ haben es gar nicht nötig, sich vom Westen belehren zu lassen: schließlich sind viele Stars von Rhein und Ruhr in der DDR aufgewachsen.
„Man kann die Kunst nur beurteilen, wenn man genug Ausstellungsobjekte zu sehen bekommt.“ Das ist für viele der Grund, nicht nur das Dimitroff-Museum zu besuchen; mit der neuen Reisefreiheit rücken Kunstmetropolen wie London, Paris oder Florenz plötzlich in den Bereich des Möglichen. Allerdings bleiben auch die Kunststudenten skeptisch, ob die gewährte Reisefreiheit nicht doch nur ein Schachzug ohne weitere Reformen bleibt: „Es reicht nicht, wenn ich in der Welt herumreisen kann, und zurück komme ich in das gleiche finstere Kaff.“
Leipzig in disen Tagen. Das ist ein beliebte Sprechblase für Journalisten in diesen Tagen, weil sie wissen, daß diese Tage schon als jene Tage in die Geschichte eingegangen sind und zum Vergangenen zählen, bevor die Meldung über den Ticker gelaufen ist. Da haben es die Fernsehsender schon einfacher, ihr Bild ist Botschaft, sofort präsent und konsumierbar, auch wenn es wieder mal nicht in die Tiefe, sondern in die Breite geht. Und endlich hat man auch unter den Journlalisten das Volk entdeckt. Gierig saugt die Meute, die sonst an den Rockschößen der Politiker von Pressekonferenz zu Empfang, von Kamingespräch zum Händeschütteln eilt, alles auf, worüber Millionen von „Landsleuten“ in der DDR auf offener Straße schimpfen.
Die Kunst hat Glück gehabt, denn sie fügt sich in den revolutionären Prozeß. Jeder Satz, in welcher Situation er auch niedergeschrieben wurde oder wie alt er auch sei, paßt auf den gegenwärtigen Wandel. Peter Handkes „Kaspar“: War dieses Stück „Sprechfolter“ nicht schon immer auf die Sprachakrobatik der DDR-Bürokratie gemünzt? Oder Jürgen Beckers Endloslyrik über die „wiedervereinigte Landschaft“? War das nicht prophetisch niedergeschrieben für diese Tage in Leipzig? Adolf Winkelmann hat mit „Super“ Anfang der achtziger Jahre ganz ungewollt einen Film gemacht, in dem zwar ein grauenvoller Udo Lindenberg zu schauspielern versucht, der aber eine Fluchtphantasie entwickelt, wie sie genialer nicht ausgedacht sein könnte.
Sogar Astrid Lindgrens Kindermärchen „Ronja Räubertochter“ nimmt sich plötzlich deutschnational aus: Da sind das Mädchen Ronja und ihr Freund Birk, der der verfeindeten Sippe der Borkasohns angehört, und die vom Blitzschlag zerstörte Burg, die nun durch eine tiefe Kluft in zwei Teile getrennt ist. Der Konflikt. Das Zusammenraufen der beiden Räuberbanden. Die Versöhnung - man könnte auch Wiedervereinigung sagen. Das Ensemble des Kinder- und Jugendtheaters Dortmund hat das Stück vor der Aufführung im Leipziger Kellertheater um einige wortreiche Gesten und Umarmungen erleichtert, damit die Tränendrüsen vaterlandssehnsüchtiger Eltern nicht überstrapaziert werden. Was Räubertöchter und Rumpelwichte alles anrichten können.
Kultur volksnah. Die Kleingartenspartenanlage Leipzig Südost. Heute abend lädt die Dajana-Band zum Benefiz -Konzert. Natürlich hat man auch hier von den Kulturangeboten aus NRW gehört. In den Betriebe waren Karten verteilt worden: „Pina Bausch für 20 M., wer hätte das je gedacht?“ Aber jetzt zählt nicht das ferne NRW, sondern das Bier auf dem Tisch und die „Mucke“ auf der Bühne. Dort gibt es gleich eine Premiere, mitgebracht von einer Wanderfahrt der Altherren-Ruderriege der HSG-KMU Leipzig - der Hochschulsportgemeinschaft an der Karl-Marx-Universität. Der Sänger Peter Antosch schnappt sich seine Gitarre, appelliert noch einmal eindringlich an das Gewissen der Kleingärtner, doch bitte für das Altenheim in der Waldstraße zu spenden, und legt los: „Oh Messestadt Leipzig, wir lieben dich/ohne Nicolaikirche, da geht es nicht/wir halten zusammen und machen uns Mut/'ne richtige Demo, die geht ins Blut/wir gehen auf die Straße, woll'n keine Gewalt/und machen auch vor der Mauer nicht halt/wir wollen wissen, wie es um uns steht/und wie weit die Verschuldung der Wirtschaft geht.“ Beim Refrain stehen alle auf und klatschen mit: „Das ist der Heldenstadt-Blues, weil jeder seine Meinung sagen muß!“ Danach kommt das, worauf viele DDR-Bürger vierzig Jahre gewartet haben. Jedes Treffen, ein politischer Diskurs, jede Versammlung mit einer Unterschriftenliste, jedem Bürger seine kleine Revolution. In der Kleingartensparte - so heißen hier die Keimzellen des Gemüseanbaus - hat man den Sender Leipziz als Erzfeind entdeckt. Warum soll ein guter Genosse Weihnachten immer nur für Afghanistan spenden? Also, her mit der Unterschrfitenliste, aber schnell. Dieses Jahr soll der Sender gefälligst zur Sammlung für das Altenheim aufrufen. Ein aufgeregter Kleingärtner sucht noch Papier für die Resolution, für den Rest des Abends feilt er an scharfen Worten gegen den staatstreuen Sender.
Katz und Maus in Leipzig. Die einzige private Galerie der Stadt liegt versteckt in einem Hinterhof. Eine alte Fabrik, bröckelnder Putz, freigelegter roter Ziegel, der schon wieder grau wird vom Ruß der Kohleöfen. Seit 1983 gibt es hier die Galerie „Eigen+Art“, mit der Judy Lybke junge Kunst abseits des staatlichen Kunstbetriebes fördern will. Die Räume in der ehemaligen Lithotusche-Fabrik Rohrer und Klingner - sogar Picasso hatte hier bestellt - sind verriegelt; der Galerist weilt in Berlin, nicht weil er wegen der Öffnung der Grenzen jetzt um die Exklusivität seiner Institution fürchten muß, wie er immer wieder beteuert, sondern wegen geschäftlicher Verpflichtungen. Vor der Zulassung privater Galerien in der DDR, mit der noch dieses Jahr zu rechnen ist, wird ihm nicht bange, denn „die neuen Privatgalerien werden gezwungen sein, Umsatz zu machen und sich auf den Markt auszurichten.“ Das führt, meint Lybke, zu Zugeständnissen an den Publikumsgeschmack und zu Kunst-Boutiquen, die „auf der einen Seite Keramik und Souvenirs, auf der anderen Seite ein paar Bilder verkaufen werden, die gut zur Kleidung passen.“
Judy Lybke will den umgekehrten Weg nehmen: unbekannte Künstler fördern, ihre Werke beisammenhalten, keine überstürzten, kurzfristigen Verkäufe abwickeln. Wie er sich davor schützen will, daß seine Künstler einfach zu West -Galeristen überlaufen, mag Judy Lybke nicht verraten. „Noch hat der Staat bei allen Geschäften im Kunsthandel das Monopol.“
„Let's get stoned.“ Auf tritt die Kölner Rockgruppe Rausch. Nur ein paar Zuhörer zittern im Zelt, manche starren mit glasigen Augen auf den Zappelphilipp am Mikrophon. Ob sie vom Radeberger Pilsener berauscht sind oder Klebstoff im Eimer aus Plaste und Elaste geschnüffelt haben, läßt sich nicht feststellen. Dann springt der Sänger von der Bühne und schleudert mit den Polsterstühlen der ersten Reihen um sich. Rebellion - made in West-Germany, nun in der DDR. Die Jugendlichen ein paar Bänke weiter schauen gelangweilt zu. Draußen beginnen Schausteller damit, die Lichterketten einzuholen, während von drinnen noch die Bässe nach außen nachhallen. Wenn das die unbequemste Nummer der Kulturpräsentation war, muß die nordrheinwestfälische Kulturszene ganz froh sein, daß sie auf eine historische Situation getroffen ist. Sonst hätte vielleicht noch jemand bemerkt, daß Mittelmaß immer noch Mittelmaß bleibt, selbst wenn man unter den bequemen Künstler nur die hochkarätigsten auswählt.
Immer wieder montags wiederholt sich das gleiche Ritual. Vielleicht war Kultusminister Hans Schwier auch gestern wieder unter den Demonstranten und hat eine Kerze vor dem Stasi-Gebäude entzündet. Dann wird es ihm sicher so ergangen sein wie vielen Demo-Touristen. Eine Stimme dringt an sein Ohr, leise, aber nicht zu überhören: „Kennen Sie das neue Staatswappen der DDR?“ Bevor man sich umgedreht hat, um nachzuschauen, wer gesprochen hat, ist die Antwort schon verklungen und der Unbekannte im Nebel verschwunden: „Apfel und Kerze! Vierzig Jahre haben wir uns veräppeln lassen, und nun geht uns ein Licht auf!“
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