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„Der Sozialismus steht zur Disposition“

■ Diskussion zwischen Ost- und Westwissenschaftlern an der FU / Wie beurteilen Sozialwissenschaftler die aktuelle Lage in der DDR? Gäste aus Ost-Berlin fordern umfassende wirtschaftliche Reformen, aber keine Kopien / „Unser Kapitalismus wäre schlechter als Ihrer“

Fast scheint es schon Normalität geworden zu sein: Wissenschaftler aus dem Ostteil der Stadt kommen für einen Nachmittag in den Westen und debattieren mit ihren Kollegen und StudentInnen über die aktuelle Lage in der DDR, das Ganze aus wissenschaftlicher Sicht. Und doch war es eine Premiere: Geladen hatten die DDR-Forscher unter der Federführung von Professor Rytlewski am Fachbereich Politische Wissenschaft der FU, gekommen waren drei Wissenschaftler von der Humboldt-Universität, einer von der Akademie der Wissenschaften und etwa 200 interessierte StudentInnen. Sie diskutierten am Montag fünf Stunden lang im Henry-Ford-Bau der FU.

Wie beurteilen Wissenschaftler die Situation in der DDR, wie können Ost und West in einen Dialog treten, was kann die westliche Wissenschaft beitragen zur Analyse dessen, was in der DDR passiert? Wohin wird der Reformprozeß laufen, welche Rolle werden künftig die sozialen Bewegungen spielen, wie wird sich ein pluralistisches Parteiensystem entwickeln Fragen über Fragen wurden aufgeworfen, die zwangsläufig nur angerissen werden konnten. Daran krankte die Veranstaltung ganz entscheidend: Der thematische Rahmen war viel zu weit gesteckt, so daß die Diskussionsrunden und Einzelbeiträge oft ausuferten und keinerlei Bezug aufeinander nahmen. Von westlicher Seite waren gut 20 „Statements“ vorbereitet, die jedoch leider in 90 Prozent aller Fälle zu Referaten über den jeweiligen Forschungsbereich auswuchsen. Bei West und Ost wurde deutlich: Die Wissenschaft ist von der jüngsten Entwicklung in der DDR vielleicht noch stärker überrollt worden als andere Bereiche.

Sachlich und informativ der einführende Vortrag der Ostberliner Professorin für Staatsrecht, Rosemarie Will. Sie sprach sich explizit für eine Verfassungsreform in der DDR aus, die Dreh- und Angelpunkt für den friedlichen Verlauf der Reformen sei. Fokussierter wäre die Veranstaltung verlaufen, hätte man sich auf den Komplex konzentriert, der über die Zukunft der DDR entscheiden wird: die Ökonomie.

Der Professor für Politische Ökonomie des Sozialismus an der Humboldt-Universität, Stefan Wohanka, formulierte es mit kaum zu übertreffender Deutlichkeit: „Der Sozialismus steht zur Disposition.“ Es könne für die DDR nicht schlicht darum gehen, dem Kapitalismus westlicher Prägung nachzueifern. „Unser Kapitalismus wäre schlechter als Ihrer, und damit wäre die Frage der DDR hinfällig.“ Ein Kernproblem einer künftigen Wirtschaftsverfassung sei die Eigentumsfrage, ein zweites die Motivation der Beschäftigten. Etwa 40 Prozent der Werktätigen seien heute unterfordert, so Wohanka, und dies gelte es dringend zu ändern. Lanfristig müsse man Joint ventures anstreben, so Wohanka. Um das Vakuum zu überbrücken, das zwangsläufig entstehe, wenn die jetzigen Strukturen abgeschafft werden, plädierte er für die Einführung von Sozialräten.

Auch sein Kollege Professor Heinrichs von der Akademie der Wissenschaften, SED-Mitglied wie sein Vorredner, forderte radikale Veränderungen im Wirtschaftssystem einer weiterhin sozialistischen DDR. „Der tatsächliche wirtschaftliche Stand der DDR muß der Bevölkerung schonungslos offenbart werden.“ Das gesamte gesellschaftliche System der DDR habe über seine Verhältnisse gelebt, so Heinrichs, ohne an die Zukunft zu denken. Auch er sprach sich für Joint ventures aus.

An diesen Punkten hätte man einhaken müssen, aber sie standen leider am Ende der Veranstaltung. Alles in allem eher eine verschenkte Chance innerhalb der neuen deutsch -deutschen Wissenschaftsbeziehungen. Etwas mehr Flexibilität von westlicher Seite wäre notwendig gewesen. Dann hätte man von dem ursprünglichen Konzept, das gar nicht von östlicher Beteiligung ausgegangen war, abweichen können und sich stärker auf die Gäste aus dem Osten wie auf die Bedürfnisse des Publikums einstellen können. So war die Charakterisierung eines studentischen Zuhörers doch zutreffend: „Eine Leistungsschau des Otto-Suhr-Instituts“.

kd

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