: Rebmanns RAF-Gutachter demontiert
LKA-Sachverständiger: Die Expertisen des Hamburger Schriftgutachters Ockelmann „methodisch fehlerhaft und vom Ergebnis her falsch“ / Die Gutachten spielten in Stammheim-Verfahren eine entscheidende Rolle ■ Von Walter Jakobs
Düsseldorf (taz) - Das jüngste Kapitel über die juristische Verfolgung und Verurteilung angeblicher RAF-Mitglieder durch die Bundesanwaltschaft, den Bundesgerichtshof und den Staatsschutzsenat in Stuttgart-Stammheim muß neu geschrieben werden. Verantwortlich dafür ist Dr. Kai Nissen, renommierter Schriftsachverständiger des Landeskriminalamtes in Baden-Württemberg.
Im Verfahren gegen den Düsseldorfer Rolf Hartung, den die Bundesanwaltschaft der RAF-Mitgliedschaft und der Beteiligung an den RAF-Bombenanschlägen auf die Immenstaader Dornier Werke und das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz im Jahr 1986 beschuldigt, hat Nissen jetzt den einzigen Zeugen der Anklage, den Hamburger Privatgutachter Hans Ockelmann, auf geradezu vernichtende Weise fachlich demontiert. Dessen Gutachten seien „im Ergebnis falsch“, urteilte der LKA-Mann.
Ockelmann hatte in einem Schriftgutachten Rolf Hartung als den Urheber des handschriftlichen Warnschreibens zum Dornier -Anschlag bezeichnet. Zudem sei Hartung auch derjenige, der in dem Bekennerschreiben zum Kölner Anschlag einen Satz handschriftlich eingefügt habe. Für beide Schriftstücke sei Hartung ohne jeden Zweifel „als der gesuchte Schreiber zu bezeichnen“, schrieb Ockelmann. Aufgrund dieser Expertise wurde Hartung am 4.10. 1988 in der Düsseldorfer Kiefernstraße verhaftet.
Die von Hartungs Anwalt Karl Heinz Bartens sofort eingelegte Haftbeschwerde blieb ohne Erfolg, obwohl Bartens schon damals eine Gutachten der BKA-Schriftsachverständigen Barbara Wagner vorlegen konnte, in dem die fraglichen Schriftproben völlig anders als bei Ockelmann bewertet wurden. Es sei aufgrund des Materials „nicht möglich“, einen Urheber „mit Wahrscheinlichkeitsgraden zu identifizieren“, befand Frau Wagner. Wenn man überhaupt etwas sagen könne, dann, „daß beide Schreiben nicht auf einen einzigen Urheber zurückzuführen sind“.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes ließ sich davon nicht beeindrucken. Er wies die Haftbeschwerde am 3. März 1989 mit der Begründung zurück: „Zu Recht hat der Ermittlungsrichter im Haftfortdauerbeschluß vom 23. Januar 1989 den dringenden Tatverdacht in erster Linie auf die Gutachten des Schriftsachverständigen Ockelmann gestützt. Soweit die Verteidigung die Kompetenz dieses Sachverständigen bezweifelt, indem sie im wesentlichen auf die Gutachten der Schriftsachverständigen Wagner verweist und eigene graphologische Interpretationen darlegt, vermag der Senat dem nicht zu folgen.“
Knapp vier Monate später wurde Klaus Hartung dann doch aufgrund eines Beschlusses des 5. Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichtes Stuttgart aus der U-Haft vorläufig entlassen. Das Gericht setzte die Entscheidung über die Zulassung der Anklage gegen Hartung aus, weil sich die Richter nach monatelangem Drängen der Verteidigung endlich bereit fanden, ein zusätzliches graphologisches Gutachten einzuholen.
Die Wahl fiel auf Dr. Nissen, der eine 45 Seiten umfassende Expertise vorlegte. Seine Untersuchung zeige, „daß das Gutachten des Sachverständigen (Ockelmann, d. Red.) außerordentlich weit entfernt ist vom heutigen Stand des Faches und der zugrundeliegenden empirischen Logik der Befundbewertung“. Eine Entscheidung über den Urheber der Schreiben müsse „weitgehend offen bleiben“, befand Nissen. Es könne lediglich gesagt werden, daß eine „etwas größere Wahrscheinlichkeit“ dafür spreche, daß nicht Hartung, sondern eine andere Person als Urheber in Frage komme. Von den bisher erstellten Gutachten, so lautet der Schlußsatz von Dr. Nissen, „sind diejenigen des Sachverständigen Ockelmann als methodisch fehlerhaft und vom Ergebnis her als falsch anzusehen“.
Ockelmann war Rebmann
stets zu Diensten
In der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft wird Ockelmann dagegen als derjenige vorgestellt, der „mit sachlich überzeugenden Argumenten zu dem Ergebnis kommt, daß die fraglichen Schreibleistungen vom Angeschuldigten stammen“. Nach dem Nissan-Gutachten steht die Rebmann-Behörde nun völlig nackt da. Daß der Ermittlungsrichter Gerlach beim Bundesgerichtshof, der ebenfalls „keinen Anlaß“ sah, die „außerordentlich sorgfältige Beurteilung“ durch Ockelmann in Zweifel zu ziehen, überhaupt jemals einen Haftbefehl ausgestellt hat, führt Anwalt Bartens auf den autonomen und antiimperialistischen politischen Hintergrund des Angeklagten Hartung zurück. „Kein Amtsrichter in dieser Republik hätte jemals bei einem normalen Straftäter aufgrund eines einzigen Schriftgutachtens, selbst wenn es fachlich korrekt gewesen wäre, einen Haftbefehl erlassen. Es braucht schon Sondergerichte, um das hinzukriegen.“ Dabei waren die Zweifel an der Kompetenz von Ockelmann allen Beteiligten nicht nur wegen der Wagner-Gutachten frühzeitig bekannt. Beim Verband der Schriftsachverständigen laufen mehrere Ehrengerichtsverfahren gegen Ockelmann. Dessen Gutachten, so befürchtet der Verband, könnten „den gesamten Verband in Verruf bringen“.
Trotz dieser massiven Bedenken fuhr die Bundesanwaltschaft Ockelmann immer wieder als ihren Kronzeugen in RAF-Verfahren auf. Zuletzt 1988 als wichtigsten Gutachter in den Prozessen gegen Eric Prauss und Andrea Sievering, die beide in Stammheim vom Staatsschutzsenat, unter anderem wegen RAF -Mitgliedschaft, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Auch zu der am selben Ort verhängten zehnjährigen Haftstrafe gegen Christian Kluth hatte Ockelmann entscheidend beigetragen. Alle Verurteilten hatten zeitweise zusammen mit Rolf Hartung als Hausbesetzer in der Düsseldorfer Kiefernstraße gelebt. Gälte auch in RAF -Verfahren der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“, müßten spätestens jetzt alle diese Verfahren wieder aufgerollt werden.
Angeklagter Spielball
einer CDU-Kampagne
Für seinen Mandanten will Anwalt Bartens nun Haftentschädigung beantragen. Entschädigungen und Abbitte müßten bei Rolf Hartung vor allem auch mehrere konservative Zeitungen und die nordrhein-westfälische CDU leisten. So titelte die Düsseldorfer 'Rheinische Post‘ am 13. 10.88: „Der am 4. Oktober in der Düsseldorfer Kiefernstraße verhaftete mutmaßliche Terrorist der Roten Armee Fraktion (RAF), Hartung, war offenbar am mißglückten Mordanschlag auf den Bonner Finanz-Staatssekretär Tietmeyer am 20. September beteiligt. Dies hat die Rheinische Post gestern aus Bonner Sicherheitsbehörden erfahren. Im Bundeskriminalamt (BKA) und bei der Bundesanwaltschaft gelten die seit Jahren rechtswidrig besetzten Häuser in der Kiefernstraße mittlerweile als Hort des Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland.“
In der 'Welt‘ vom gleichen Tage führte ebenfalls die Spur der Tietmeyer-Attentäter zur Kiefernstraße. Wörtlich schrieb die 'Welt‘: „Eine Schlüsselrolle könnte dabei der vor neun Tagen durch Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) verhaftete mutmaßliche Terrorist der RAF und Bombenleger Rolf Hartung gespielt haben.“ An diesen Meldungen war nichts wahr.
Durch einen Zufall kam heraus, daß die Jornalisten bewußt falsche Spuren gelegt hatten. Tatsächlich beruhten alle Berichte auf einem Papier der Pressestelle der Düsseldorfer CDU-Landtagsfraktion, das einen Tag vor einer Landtagsdebatte über die Kiefernstraße unter besonders genehme konservative Journalisten gestreut worden war. Dabei wurde Rolf Hartung, dem selbst die Bundesanwaltschaft nie eine Beteiligung an dem Tietmeyer-Anschlag vorgeworfen hat, rücksichtslos als „Bauer“ eingesetzt, um die anstehende vertragliche Lösung für die besetzten Häuser in der Kiefernstraße zu torpedieren und den Innenminister Schnoor als Sicherheitsrisiko vorzuführen.
Unter Berufung auf die von der CDU selbst initierten Zeitungsberichte warf der Düsseldorfer CDU-Generalsekretär Helmut Linssen am Tag der Veröffentlichung Schnoor im Landtag vor, dafür verantwortlich zu sein, daß die Kiefernstraße zum „Zentrum des Terrorismus in der Bundesrepublik schlechthin“ geworden sei. Während die CDU -Brandstifter sich am 13.10. 88 im Landtag in der Pose der Biedermänner gefielen, saß Rolf Hartung, dem sie in dem miesen Stück den Part des Knüppels zugedacht hatten, wg. Ockelmann in einer kleinen Zelle im Bielefelder Knast.
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