: Kurz vor 1992: EG auf der Suche nach Europa
■ Ost-West-Debatte im Europaparlament / Grenzenloser Binnenmarkt nun erst recht / Assoziierungsabkommen mit DDR
Straßburg (taz) - „Welches Europa wollen wir?“ Die Frage trieb am Mittwoch abend die Abgeordneten des Europäischen Parlaments in Straßburg im Rahmen einer Ost-West-Debatte um. Der Umbruch im Osten konfrontiert die EG-EuropäerInnen plötzlich mit der Notwendigkeit gesamteuropäischer Konzepte. Dies ausgerechnet in der Schlußphase des großen Runs in den für 1992 angepeilten Binnenmarkt. Der grenzenlose Binnenmarkt samt Wirtschafts- und Währungsunion, so die Logik des Kommissionspräsidenten Jacques Delors, müsse nun erst recht zügig durchgezogen werden. Der Binnenmarkt dürfe nicht verzögert werden, denn nur er garantiere den EG -EuropäerInnen die Wirtschaftspower, um den von Mißwirtschaft ruinierten Oststaaten unter die Arme zu greifen.
Zu Verzögerungen im weiteren Integrationsprozeß, so fürchten manche EurokratInnen, könnte die deutsch-deutsche Beziehungskiste führen. Hier beschwichtigte Kanzler Kohl, der sich selbst als Gastredner eingeladen hatte: Bonn stehe fest zum Binnenmarkt und dem Fernziel der Europäischen Union. Das Streben nach der deutschen Einheit und die europäische Integration stünden nicht im Widerspruch, sondern seien vielmehr „wie die zwei Seiten einer Medaille“.
Der französische Chef der sozialistischen Fraktion, Jean -Pierre Cot, forderte die Kommission auf, die jüngst von der EG beschlossene europäische Umweltagentur „kühn als pan -europäische Agentur (zu) denken“. „Warum“, so Cot weiter, „soll ihr Sitz nicht Berlin sein?“ Als Favoriten für eine engere wirtschaftliche Kooperation wurden Ungarn und Polen gehandelt. Langfristig, so klang mehrmals an, sei durchaus eine EG-Mitgliedschaft der DDR, als erste Stufe vielleicht ein Assoziierungsabkommen denkbar. Schon im Dezember wird EG -Kommissar Franz Andriessen zu Gesprächen nach Ost-Berlin fliegen. Der italienische Kommunist Calajanni warnte vorsorglich, die EG dürfe sich mit ihrer Wirtschaftshilfe „keine neuen Protektorate im Osten“ schaffen.
Thomas Scheuer Kommentar auf Seite 8
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