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Das „russische Ideal“

■ Ein Gespräch mit Viktor Aksyuchits von 'Vybor‘, einer russisch-christlichen Samisdat-Zeitschrit

Alyona Kozhewnikowa: Was sind Ihrer Meinung nach die Kennzeichen der Samisdat-Literatur in der Sowjetunion heute?

Viktor Aksyuchits: Das hat sich in letzter Zeit sehr geändert. Früher war Samisdat etwas, das entweder mühselig von Hand oder mit Kohlepapierdurchschlägen auf der Schreibmaschine vervielfältig wurde. Jetzt haben wir mehr Zugang zu komplexer Technik, beispielsweise zu Photokopiergeräten. Manche Papiere werden sogar von Regierungsmaschinen gedruckt, es gibt mehr und mehr Computer, und einige Leute haben sogar schon mit Laserdruck gearbeitet, aber das ist erst seit sehr kurzer Zeit der Fall. Dies hat natürlich die Menge des Gedruckten sprunghaft zunehmen lassen; statt mit fünf Durchschlägen auf der Maschine herumzufummeln, kann man jetzt Hunderte oder gar Tausende von Exemplaren in einem Bruchteil der Zeit herstellen. Jede neu entstehende Gruppe - ob sozial, kulturell oder sonstwie engagiert - will ihre eigene Zeitschrift oder Broschüre haben und sich in irgendeiner Form publizistisch ausdrücken. Ich glaube, daß keiner genau weiß, wieviele Samisdat-Publikationen zur Zeit eigentlich existieren. Neben dieser Publikationsarbeit gibt es eine weitere neue Tendenz, nämlich Samisdat-Bibliotheken einzurichten, Leseräume und nichtoffizielle Zentren, in denen Samisdat gesammelt und gelesen wird.

Samisdat ist also nicht mehr nur Ausdruck von Protest, sondern wird zunehmend informativ und aufklärerisch?

Ja, und die Kultur nicht zu vergessen. Kulturelle und kreative Trends findet man dort auch.

Die Zeitschrift 'Vybor‘ (Wahl), deren Mitherausgeber Sie sind, ist ja ein relativer Neuling auf diesem Gebiet. Was waren Ihre Motive für die Gründung, und inwieweit unterscheidet sich Ihre Zeitung von anderen Samisdat -Zeitungen wie beispielsweise Grigorjants 'Glasnost‘ oder Orgorodnikows 'Bulletin der christlichen Gemeinde‘?

Unsere Motive waren im wesentlichen soziale und kulturelle. Mein Mitherausgeber Gleb Anischenko und ich wußten aus eigener Erfahrung, daß seit Jahren - sogar Jahrzehnten Leute wie wir nur für die Schublade schreiben konnten. Also entschlossen wir uns, eine Zeitung für christliche Schriftsteller zu gründen, um ihre Arbeiten endlich für eine breite Leserschaft zugänglich zu machen. Wir wollten außerdem, daß sie zu einem Forum wird, das die kreative intellektuelle Dynamik der christlichen Gemeinde in unserem Land bündelt und reflektiert. Gleichzeitig hatten wir vor, unsere Seiten auch für russische Denker im Ausland zur Verfügung zu stellen, und bisher ist uns das auch gelungen. Aber wichtiger noch ist das, was man unsere ideologische Plattform nennen könnte. Als überzeugte Christen glauben wir, daß die christliche Weltsicht die lebensfähigste und wertvollste ist, die es gibt - so merkwürdig das in unserer säkularen Zeit auch klingen mag. Für einen Christen ist die empirische Realität erleuchtet von absoluten Werten, und das ist es, was ihm als Orientierung in weltlichen Angelegenheiten dient. Die Ideen und Werte, von denen Perestroika - im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben - bestimmt ist, sind in Wirklichkeit von unabhängigen Denkern schon vor zwanzig, dreißig Jahren formuliert worden. Was also ist unsere Perspektive für die nähere und fernere Zukunft? Zuallererst ist die Notwendigkeit neuer spiritueller Ideale und Werte offensichtlich geworden. Und mit unserer Zeitung hoffen wir, zur Formulierung solcher Ideale beitragen zu können oder sogar auf nationaler Ebene eine Schlüsselrolle darin zu übernehmen. Einer der wichtigsten Punkte in unserem Programm ist das Streben nach nationaler und schöpferischer Einheit. Und die beste Grundlage hierfür stammt in allererster Linie von den Idealen des Christentums.

Wer schreibt für Sie? Sind die Arbeiten Ihrer Autoren nur bei Ihnen zu finden?

Es handelt sich um eine sehr gemischte Gruppe, und nur wenige schreiben nur für 'Vybor‘. Ganz generell versuchen wir, nichts zu monopolisieren oder Exklusivrechte am Werk von irgend jemandem in Anspruch zu nehmen. Unser Ziel ist ein möglichst breites Meinungsspektrum einschließlich der Arbeiten von heimischen und emigrierten Autoren, von offiziell anerkannten wie auch von nicht anerkannten. Zum Beispiel haben wir Artikel von Schreibern veröffentlicht, die sonst im 'Journal des Patriarchats von Moskau‘ publiziert werden, und gleichzeitig hat das 'Journal‘ Artikel von einem unserer Autoren veröffentlicht. Das ist etwas, was wir sehr begrüßen.

Daneben gaben uns Mitglieder des Schriftstellerverbandes Arbeiten von sich, was wir ebenfalls mit Freude zur Kenntnis genommen haben; da diese Schriftsteller ihre christlich motivierten Arbeiten bisher noch nicht in die offizielle sowjetische Presse kriegen, veröffentlichen wir sie eben. Wir sind sehr für die Stärkung aller möglichen Kräfte und Schichten, die Rußland retten können. Selbstverständlich arbeiten wir ebenso auf die Stärkung der Grundlagen unserer Ziele hin. Logischerweise würden wir nicht etwa von unseren Prinzipien abweichen, nur um einen bestimmten Autor zu gewinnen.

Übrigens schreiben Autoren der verschiedensten Altersstufen für uns. Viele junge Autoren bringen uns ihre ersten Versuche, aber ebenso schreibt ein so bedeutender Theologe wie der 84jährige Bakulin für uns, der schon unglaublich viel veröffentlicht hat. Unsere Aufgabe ist jetzt: publizieren, publizieren und nochmals publizieren.

Sie erwähnen das Stichwort „nationale Einheit“, dabei genügt die pure Erwähnung von „russischem Nationalismus“ in bestimmten Kreisen schon, um Schrecken oder höhnische Abwehr auszulösen. Wie wichtig, glauben Sie, ist der „nationale Gedanke“ - in diesem Fall der russische Nationalgedanke - im 20.Jahrhundert oder, genauer gesagt, heute noch?

Das ist eine komplexe und sehr sensible Sache. Aber zunächst möchte ich für eine klare Unterscheidung zwischen den Begriffen Chauvinismus, Nationalismus und Patriotismus plädieren. Wir wissen alle, wodurch sich Chauvinismus definiert: extremer Nationalismus, begleitet von Haß und Feindseligkeit gegenüber anderen Nationen. Nationalismus ist, denke ich, eine mildere Form des nationalen Selbstverständnisses, aber immer noch keine sehr gesunde Form, da auch dies noch einhergeht mit Gefühlen einer besonderen Größe der eigenen Nation und der Abwehr gegen andere Nationen, wenn auch nicht ganz so heftig wie beim Chauvinismus. Aber was ist Patriotismus? Es ist die Liebe zum eigenen Land, zur nationalen Kultur und den historischen Errungenschaften seiner Nation. Der Apostel Paulus sagt, Liebe schließt Haß und Fremdheit aus. Und daher schließt die Liebe, die im Nationalismus steckt, die Offenheit gegenüber dem Rest der Menschheit, anderen Nationen gegenüber, mit ein, bei gleichzeitiger Liebe zur Kultur der eigenen Nation. Für die russische Kultur ist dies sehr deutlich geworden bei Männern wie Puschkin und Dostojewski.

Die drei Begriffe sind zur Zeit in der Sowjetunion aus sehr komplizierten Gründen eng miteinander verwoben. Ich möchte für den Patriotismus ein gutes Wort einlegen: Wenn Sie sich die Weltgeschichte ansehen, so zeigt sich, daß einzelene Nationen immer dann Großes in der Kultur oder auf anderen Gebieten zustande gebracht haben, wenn patriotische Gefühle hoch im Kurs standen. Ich glaube, daß die patriotische Wahrnehmung heute eine sehr entscheidende Rolle spielt. Schauen Sie sich die letzten 70 Jahre unserer Geschichte an: Was wollte das sowjetische Regime zuallererst mit Stumpf und Stiel ausrotten? Den Patriotismus. - Unser Volk ist von der kommunistischen Idee, von der bestimmte Kreise unserer Gesellschaft sich haben führen lassen, vollständig desillusioniert. Jetzt müssen wir uns eine neue Grundlage für uns selbst schaffen; die logische Konsequenz ist, auf den Fundamenten des Patriotismus wieder aufzubauen. Bevor wir uns nicht selber neu definiert und unsere Identität wiedergefunden haben, können wir kein integraler Bestandteil Europas werden.

Wenn es um russischen Nationalismus geht, hat sich die Medienberichterstattung in letzter Zeit besonders an die Pamyat-Bewegung gehalten - als düstersten Beweis für die Gefahren eines wiederbelebten russischen Nationalismus. Was ist Ihre Meinung zur Pamyat-Bewegung?

Diese stereotype Reaktion im Westen ist leider sehr typisch für die Oberflächlichkeit westlicher Berichterstattung, wenn es um die wichtigeren Prozesse in unserem Land geht. Mit einfachen und allzu glatten Analysen kommt man der heutigen Situation in der Sowjetunion nicht bei. Man sollte bedenken, daß nationale Kultur und Patriotismus 70 Jahre lang gnadenlosen Ausrottungsversuchen standhalten mußten. Wie können Sie dann von uns eine schmerzlose Renaissance erwarten? Wer lange ohnmächtig war, kommt nicht einfach so wieder zu Bewußtsein, seine Gedanken wandern, bevor er wieder „compas mentis“ ist. Vielleicht hat er sogar Anfälle von Delirium oder Halluzinationen, und dafür braucht man therapeutische Geduld. Zusätzlich leiden westliche Analysen auch an der häufigen Verwirrung der Begriffe „russisch“ und „sowjetisch“. Die Aggression der Sowjetunion wird als Verlängerung der „russisch-imperialistischen Aggression“ gesehen. Deshalb erheben sich im Westen bei jeder Manifestation nationalistischer, patriotischer Renaissance in der Sowjetunion Befürchtungen, daß durch russisches Nationalbewußtsein in Wirklichkeit die kommunistische Expansion neu belebt werden soll. Selbst wenn hierin ein Körnchen Wahrheit steckte, wäre es wichtiger, sich klarzumachen, daß jede Phobie wiederum Phobien produziert. Und jegliche Russophobie im Westen wird in Rußland entsprechende negative Trends verstärken.

Pamyat ist ein sehr merkwürdiges Phänomen. Alle möglichen Leute zieht es zu dieser Organisation, aus den unterschiedlichsten Gründen; es ist alles andere als eine homogene Gruppe. Guckt man sich Pamyat in Leningrad oder in Obninsk, im Fernen Osten oder in Moskau an, kann man sehen, wie sehr sie sich unterscheiden. Schon die Moskauer Gruppe unter Wasiljew besteht aus sehr unterschiedlichen Menschen, und ich sage das als Moskauer, der die Verlautbarungen und das Verhalten dieser Regionalgruppe sehr genau verfolgt hat. Die Menschen kommen zu Pamyat mit dem Wunsch, ihr patriotisches Gedankengut auszudrücken. Daran ist nichts falsch, nur gibt es dann zusätzlich hierzu manche negative Erscheinung.

Für mich ist der Leiter des Moskauer Pamyat kein Patriot, er ist Nationalist mit chauvinistischem Einschlag. Und viele in Pamyat sind so. Sie sind in der Minderheit, aber sie schreien lauter und länger als alle anderen; die einzig mögliche Reaktion auf sie ist eine negative. Sie haben ein parasitäres Verhältnis zur Nationalidee, der patriotischen Neubelebung. Sie sind von Haß beseelt und tun nichts anderes, als die patriotischen Werte zu pervertieren. Mit ihrer perversen Demagogie sind sie eine Gefahr für jede wahre patriotische Bewegung.

Aber glauben Sie nicht, daß solche Ressentiments so verbreitet sind, daß sie auf die Beziehungen zwischen den Völkern der Sowjetunion einen sehr realen Einfluß ausüben können?

Nein, denn enger Chauvinismus ist die dominierende Kraft. Ich glaube, daß insgesamt eine konstruktive patriotische Einstellung vorherrscht. Natürlich wird das durch die Politik ständig verkompliziert. Ich denke, es ist ein Fehler, den Repräsentanten von Pamyat keine Öffentlichkeit zu verschaffen, so daß sie für sich selbst sprechen können; denn die Leute lesen Verurteilungen der Pamyat und sehen gleichzeitig, daß sie kein Forum haben, wo sie reden können. Das kreiert Sympathien für Pamyat, da es sie zu Verfolgten macht. Meiner Ansicht nach würden wir und westliche Beobachter davon profitieren, wenn Pamyat und Opponenten der Bewegung gleiches Recht zur Darstellung und Argumentation bekämen. Zur Zeit gibt es nur diese Pamyat-Phobie und, wie ich schon gesagt habe, erzeugen Phobien dieser Art nur neue Phobien im Bewußtsein der Allgemeinheit. Ich glaube, das ist viel gefährlicher.

Was ist Ihre eigene Definition des „nationalen Gedankens“?

Zur Zeit herrscht großes Interesse an diesem Thema - und viel Verwirrung. Gegner des „russischen Gedankens“ verdrehen ihn auf vielfältige Weise, vor allem durch Fälschung der russischen Geschichte. Eine ihrer beliebtesten Vorstellungen ist die, daß die Ausbreitung des Weltkommunismus rein russischen Wurzeln entspringt, wobei sie eine Linie ziehen von Ivan dem Schrecklichen über Peter I. bis zu Stalin. Viele Autoren definieren den „russischen Gedanken“ als Expansion und sonst gar nichts, eine Vorstellung, die besonders bei denen beliebt ist, die wenig über Rußland oder russische Geschichte wissen. Das klingt glatt und einfach, aber solche Verallgemeinerungen und Vereinfachungen sind keine Basis für einen ernsthaften Streit.

Auf der anderen Seite sind auch die Befürworter des zeitgenössischen russischen Gedankens verwirrt. Man braucht sich nur den wüsten Streit zwischen den verschiedenen Zeitungen wie den national orientierten 'Nash Sowremennik‘ (Unser Zeitgenosse), 'Molodaya Gvardija‘ (Der junge Wächter) und den eher westlich orientierten wie 'Ogonek‘ (Die Flamme) und 'Znamya‘ (Die Fahne) anzuschauen. Das ist kein einfacher Streit zwischen der Wahrheit auf der einen und der Unwahrheit auf der anderen Seite. Beide Seiten sind in ein schreckliches Durcheinander geraten. Da gibt es unsere „Westler“, die zuallererst Demokratie haben wollen oder besser: eine Demokratie nach westlichem Vorbild, obwohl ihre Kenntnis über den Westen ziemlich beschränkt ist. Sie greifen sich bestimmte Aspekte heraus - meiner Meinung nach nicht immer die besten - und wollen sie unserer Gesellschaft aufpfropfen. Darin sehe ich keine Zukunft; das Experiment hat man im März 1917 schon einmal gemacht und gesehen, was dabei herausgekommen ist.

Ihnen gegenüber stehen unsere sogenannten Pochvenniki (nach dem russischen Wort für Erde, Boden), die Rußland aufrichtig lieben, an seinem Schicksal leiden und die eine nationale Wiedergeburt wollen. Paradoxerweise ist ihnen die russische Kultur im Grunde fremd, denn sie sind weder Christen noch Orthodoxe, und das heißt, sie können eine Kultur, die auf dem Christentum basiert, nicht wirklich annehmen. Dies gilt selbst für einen Schriftsteller wie Valentin Rasputin, dessen Werk ich sehr bewundere.

Genauso ist es mit den Leuten von Pamyat, die auch behaupten, daß sie eine Wiedergeburt russischer Nationalkultur befürworten und dabei in Wirklichkeit nicht wissen, was russisches Christentum heißt, und nur wenig von der Geschichte Rußlands wissen. Auf dieser Ebene ist jede Diskussion unfruchtbar. Da wird nicht nach der Wahrheit gesucht, sondern nur sich zerstritten und jegliche Renaissance behindert.

Man sagt, daß Halbwissen eine gefährliche Sache ist; glauben Sie, daß dies angesichts der „Bücherdürre“ in der Sowjetunion, des fehlenden Zugangs zur Literatur der Vergangenheit ein Problem ist?

Ja, sicher, allerdings würde ich sagen, daß eine Entwicklung auf kultureller und spiritueller Ebene noch wichtiger ist als auf intelektueller Ebene. Merkwürdigerweise gehen beide, Verteidiger und Kritiker der russischen Idee, am Begriff des nationalen Ideals vollkommen vorbei in ihren Diskussionen. Und dieses Ideal existiert, man muß sich nur die tausend Jahre russischer Geschichte sorgfältig und ohne Vorurteil anschauen, eine Geschichte, die unter sehr anderen Bedingungen verlief als die vieler anderer europäischer Nationen. Die hieraus hervorgegangene Kultur ist im wesentlichen Produkt des religiös-nationalen Ideals, das die Nation durch viel Kummer und Elend hindurchgeführt hat. Natürlich sind wir oft von dem primär religiösen Ideal abgefallen, das Ideal wurde verraten, aber es blieb dennoch bestehen als eine Art Leitstern für das Volk und seine Kultur. Aber heute wird es von Verteidigern wie Kritikern des russischen Nationalgedankens gleichermaßen ignoriert. In seiner Kritik am russischen Gedanken sagt Vittorio Strada, man solle sich nicht von utopischen Bedürfnissen und Mythen hinreißen lassen, sondern die konkreten historischen Ereignisse studieren. Aber die konkrete Geschichte ist nicht einfach nur empirisch und praktisch: Die russische Geschichte zeigt, daß das Volk die großen historischen Probleme und immensen Prüfungen, die es zu bestehen hatte, nur durch spirituelle Realität, eine einigende, gesamtnationale religiöse Idee meistern konnte.

In den baltischen Republiken, der Ukraine und anderen Regionen gibt es sehr starke nationale Strömungen. Angenommen, dies führte zu größerer regionaler Autonomie, was wäre dann Ihrer Meinung nach die Aufgabe der Russen und der russischen Kultur? Zur Zeit wird sie überall noch aufgezwungen, aber was ist, wenn dieser Zwang aufhört?

Die russische Nation und Kultur kann mit dem Epizentrum einer ideologischen Explosion verglichen werden, sie ist mehr als alle anderen zerstört und verdreht worden. Bis jetzt ist die Ideologie noch ein Parasit am Körper der russischen Kultur, und diese Ideologie benutzt das Russische als Werkzeug zur Unterdrückung anderer Nationen. Die direkte Folge davon ist ein Anwachsen der Russophobie. Obwohl ich ein großer Befürworter dessen bin, was in Baltikum und Kaukasus im Zuge dieses Rechts auf Selbstbestimmung geschieht, fürchte ich doch, daß die Verwirrung der Begriffe „russisch“ und „sowjetisch“ diesen Nationen ihre Freiheit nicht näherbringt, sondern sie im Gegenteil behindert.

Ich meine, das beste Motto für uns alle wäre: Bevor wir uns spalten, laßt uns lieber mit vereinten Kräften gegen den gemeinsamen Feind kämpfen, die Ideologie nämlich, die alle Völker der UdSSR versklavt hat. Denn wir sind alle versklavt durch diese Internationalität der „Lumpen“, die mit der Ideologie einhergeht. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum zu meinen, die Völker der UdSSR seien von „den Russen“ versklavt, schließlich ist vollkommen klar, daß der russische Republikenbund (RSFSR), der theoretisch das „Zentrum“ der Sowjetunion ist, viel größere Verwüstungen erlitten hat - kulturell, ökonomisch, sozial und in jeder anderer Hinsicht - als Gebiete, die weiter entfernt sind. Wir, die Völker der Sowjetunion, sind verbunden durch diese gemeinsame Tragödie. Es wäre ein furchtbarer Fehler, sich jetzt zu spalten, da wir immer noch unter dem Joch der Ideologie sind. Was wir allerdings tun sollten, ist eine schrittweise, konstruktive Befreiung, und das gilt für jede Nation.

Angenommen, die baltischen Staaten würden ökonomisch unabhängig, dann sollte dieses Recht allen Republiken gegeben werden einschließlich der russischen. Falls das nicht geschieht, wird dies nur zusätzlichen Anlaß für weitere Uneinigkeit und Ressentiments geben. Wirkliche Befreiung erreicht man nicht durch Diskriminierung.

Was die russische Kultur betrifft, so glaube ich, daß ihre Rolle in Zukunft eine sehr positive sein wird. Die Besonderheit russischer Kultur - man nehme nur die Werke unserer Klassiker des 19.Jahrhunderts, ihre Menschenliebe, ihre Teilhabe an der allgemeinen menschlichen Kultur und Wertordnung, ihr nationales Pathos - kann zu einem mächtigen Instrument im Kampf der Befreiung von unserem gemeinsamen Unterdrücker werden, von der kommunistischen Ideologie, die zu nichts als Zerstörung und Ruin führt. Ganz bestimmt kann die russische Kultur auch ein Schmelztiegel für die Herausbildung von Idealen sein, die auch für unsere nichtrussischen Brüder relevant sind.

Wie offen agieren Sie in 'Vybor‘?

Wir wollen die soziale und kulturelle Szene nicht nur durch den Inhalt unserer Artikel beeinflussen, sondern auch durch unser Beispiel. Wir glauben, daß wir leben und arbeiten müssen, als ob wir freie Bürger in einem freien Land wären. Für Freiheit kämpfen durch aktives Beispiel, wenn Sie so wollen.

Bevor wir anfingen, schrieben wir an Gorbatschow und beschrieben ihm, warum wir eine solche Zeitung für notwendig halten. Als wir keine befriedigende Antwort auf unseren Brief bekamen, erklärten wir öffentlich, daß wir diese unabhängige Zeitschrift publizieren würden. Mit „Untergrund“ -Aktivitäten haben wir nichts zu tun, wir sind keine Verschwörer.

Wir haben auch noch andere Eisen im Feuer, zum Beispiel werden wir versuchen, eine unabhängige 'Vybor'-Bibliothek zu gründen, Treffen, Seminare und Vorträge zu organisieren. Wir versuchen es legal, offen, nicht in Privatwohnungen sondern in Bibliotheken, Sälen, Kulturhäusern. Das gelingt nicht immer. Aber wir versuchen die Gesellschaft und die Behörden an den Gedanken zu gewöhnen, daß wir freie Bürger eines freien Landes sind.

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