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Die Geschichte des Jungen Celso

■ Erzählt von Dr.Elizabeth Marcelino, der Direktorin des „Children's Rehabilitation Center“ (CRC) in Manila

Celso (Name v.d. Red. geändert) stammt aus einer Bauernfamilie. Sein Vater wurde bei der Feldarbeit unter dem Verdacht verhaftet, den Guerilleros anzugehören oder sie zu unterstützen. Celso wurde Zeuge der Festnahme und anschließenden Folter seines Vater. Dann wurde sein Vater vor seinen Augen getötet. Celso sagt, daß sein Vater in Stücke gehackt und die Teile verstreut wurden. Während der ganzen Zeit hielt er sich versteckt, um nicht in die Hände der Soldaten zu fallen. Schließlich rannte er zu seiner Mutter und zu einem anderen Bruder. Alle drei flohen, weil das Militär bereits hinter ihnen her war. Einen Monat später ging er in die Stadt, um etwas einzukaufen. Das Militär erkannte ihn, nahm ihn fest und folterte ihn, so schlimm, daß sein Trommelfell platzte und sein ganzer Körper grün und blau war. Er entkam erneut. Damals war er zwölf Jahre alt.

Nach einem langen Irrweg kam er dann zu uns, mit der Hilfe einiger Gruppen. Am Anfang war es schwierig, mit ihm zu sprechen. Er sagte kaum ein Wort. Zwei Monate wußten wir nicht, wo wir anknüpfen sollten, denn wir hatten nur Informationen aus zweiter Hand. Wir haben ihn natürlich sofort medizinisch versorgt, weil wir wußten, daß er gefoltert worden war. Dabei fanden wir heraus, daß seine Trommelfelle schwer geschädigt waren. Sein physischer Gesamtzustand war sehr schlecht. Außerdem erfuhren wir, daß er nie zur Schule gegangen war.

An den Samstagen, wenn wir mit den Kindern alle möglichen Spiele machen, saß er immer stumm auf seinem Stuhl und schaute zu. Das änderte sich erst, als ein gleichaltriger Junge dazu kam. Sie freundeten sich an, und er begann mitzuspielen und mehr zu reden. Nach einiger Zeit lernte er wieder zu lachen und sich an Späßen zu beteiligen, alles während des normalen Tagesablaufs. Obwohl wir das sicher gefördert haben, glauben wir, daß die beiden Jungen sich überwiegend selbst geholfen haben. Die Freundschaften, die sich hier unter den Kindern entwickeln, sind von hohem therapeutischen Wert, besonders die Erfahrung, daß sie nicht als einzige betroffen sind.

Als Olalia (Vorsitzender der Gewerkschaft KMU) ermordet wurde, sprachen die Kinder darüber, denn damals kamen etwa 50 Prozent von ihnen aus Arbeiterfamilien. Das war, als Celso plötzlich sagte: „Mein Vater ist auch umgebracht worden.“ Ich bat ihn, zu erzählen, wie es passiert war. Er tat es und durchlebte dabei den ganzen Vorfall erneut. Einige Kinder schlugen vor, die Geschichte zu spielen. An manchen Stellen gab es Gelächter, und einige Kinder sagten: „Lacht doch nicht, das ist ganz ernst.“ Celso meinte daraufhin: „Es ist nur ein Spiel. Ich kann es vertragen.“ Wir erkannten, daß er im Begriff war, das Geschehene zu verstehen und die Tatsache zu akzeptieren, daß sein Vater tot ist.

Celso hatte immer vor, zu seiner Mutter und seinem Bruder zurückzukehren. Er ließ sich bereitwillig auf alles ein, doch das mußten wir ihm versprechen. Eineinhalb Jahre lang stellten wir Nachforschungen über das Schicksal der Mutter an, bis wir in Erfahrung brachten, daß sie vermißt und nicht aufzufinden war. Später hörten wir, daß sie von denselben Soldaten getötet wurde, die bereits den Vater zerstückelt hatten, und daß sein jüngerer Bruder spurlos verschwunden war.

Können Sie sich vorstellen: ein Heilungsprozeß, und dann wieder Schmerz, Heilung und erneut tiefe Trauer? Wir haben es kaum übers Herz gebracht, ihm mitzuteilen: „Du kannst nicht zurück, deine Mutter ist tot“, gerade als er aufzublühen begann und dachte, er könnte zurück, um ihr zu helfen. Es war Dezember, und ich werde nie vergessen, wie er es sagte, so poetisch, denn er hat keine Vorstellung von Datum und Zeit: „Welche Jahreszeit wir wohl haben? Die Feldfrüchte müssen bald reif sein, weil es schon ziemlich kühl wird. Ich muß meiner Mutter helfen, die Ernte einzubringen, bevor die Soldaten kommen.“

Nach zweieinhalb Jahren ist Celso gegangen. Er hatte die Schule besucht und ziemlich schnell seine Versäumnisse aufgeholt. Wir haben versucht, ihn zum Weiterlernen zu motivieren, doch er hatte eine solche Sehnsucht nach seiner Familie, den Nachbarn und seiner Heimat. „Seid ihr sicher, daß meine Mutter tot ist?“ fragte er uns immer wieder. „Ich sehe ihre Leiche nicht. Wenn sie wirklich tot ist, dann möchte ich sie beerdigen. Und ich will meinen vermißten Bruder suchen.“

Celso bewahrt ein großes Geheimnis. Nichts kann ihn veranlassen, es preiszugeben. Das ist der Name und die Nummer auf dem Brustschild des Soldaten, der seinen Vater umgebracht hat, eingebrannt in seinem Herzen, in seinem Kopf. „Ich werde ihn wiedererkennen“, meinte er, „und wenn ich erwachsen bin, werde ich ihn suchen und finden.“

Ich weiß nicht genau, warum, aber er will unbedingt die Mörder seines Vaters sehen. Einige Male sagte er, er werde sich der NPA (Neue Volksarmee, linke Guerillaorganisation) anschließen, dann wieder, er sei zu ängstlich, denn das bedeute Kampf und Gewalt, und das wolle er nicht noch einmal erleben.

Es ist eine traurige Geschichte, weil wir das Ende nicht kennen. Wir haben ihn gegen unsere Überzeugung gehen lassen, doch er sagte, es gebe kein Mittel, ihn zurückzuhalten. Zu diesem Zeitpunkt war er fast fünfzehn. Wir mußten seine Entscheidung respektieren, denn wie groß die Gefahr auch sein mag, wir können nicht für immer Mutterersatz sein. Er kennt selbst die möglichen Konsequenzen.

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