Die vielen Stimmen der tschechischen Opposition

Als sich am Sonntag vergangener Woche die Vertreter der oppositionellen Gruppen in der CSSR trafen und sich zum Bürgerforum konstituierten, war eine neue Qualität erreicht: Zum ersten Mal haben sich die unterschiedlichen und manchmal auch ein wenig zerstrittenen tschechoslowakischen Oppositionellen eine Organisation gegeben, die es ihnen erlaubt, in der historischen Entwicklung dieser Tage mit einer Stimme zu sprechen. Das Flaggschiff der tschechoslowakischen Opposition ist immer noch die Charta 77. Seit die Gruppe sich am 1.Januar 1977 konstituierte, um die Herrschenden zu zwingen, die in Helsinki eingegangen Verpflichtungen bezüglich der Menschenrechte einzuhalten, ist sie mit 400 Erklärungen an die Öffentlichkeit getreten. Obwohl ihre Sprecher und Mitglieder immer wieder Verfolgungen und Gefängnisstrafen hinnehmen mußten - ihr neben Vaclav Havel und dem ehemaligen Außenminister Jiri Hajek erster Sprecher, der Philosoph Jan Potocka, starb während der Polizeiverhöre im Frühjahr 1977, Hunderte ihrer Unterzeichner wurden des Landes verwiesen - ist es der Bürgerbewegung gelungen, ihren überparteilichen und offenen Charakter zu erhalten.

Die meisten der 1.400 Unterzeichner, die sich seit der Anfangszeit oppositionell betätigen, gingen bis in diese Tage hinein jedoch auch ihre eigenen Wege. Das „Komitee zu Unrecht Verfolgter“, das sich im April 1977 konstituierte, kümmerte sich um Einzelschicksale. Viele Mitglieder gründeten eigene Organisationen und wurden zur Hefe im Teig der sich entwickelnden Opposition. Doch blieb die CSSR -Opposition in der eigenen Gesellschaft isoliert. Nachdem General Jaruzelski in Polen 1981 die Hoffnungen auf Veränderungen in seinem Land einschränkte, schwanden auch in der CSSR die Aussichten auf Veränderungen. Die Masse der Bevölkerung hatte sich mit dem Regime arrangiert, Politik war out. Erst Mitte der achtziger Jahre kamen neue oppositionelle Impulse aus den Kreisen der Künstler und Musiker. Die „Jazz-Sektion“, in der seit 1971 mehrere tausend Künstler organisiert waren, wurde zwar vor zwei Jahren aufgelöst. Doch gerade das trieb diese Menschen in oppositionelle Aktivitäten: Lose Gruppen von Künstlern und Jugendlichen organisierten seither immer wieder witzige Happenings in der Prager Innenstadt und formierten eine neue Jugendkultur. Die „böhmischen Kinder“ zum Beispiel, die demokratische und ökologische Forderungen mit der Wiederherstellung des böhmischen Königreiches und der Adelsherrschaft verbinden, akzeptieren keine der gängigen Ideologien mehr, auch nicht die der Altoppositionellen. Auch der „Friedensclub John Lennon“ konzentriert seine Aktivitäten im Kulturbereich und beeinflußt mit der Zeitschrift 'Jazzstep‘ viele unabhängige Geister.

In den letzten Jahren entwickelte sich eine umfangreiche Untergrundliteratur. Die Anzahl der „Samisdad„-Zeitschriften ist dabei so angewachsen, daß selbst hartgesottene Oppositionelle die Übersicht verloren haben. Und da seit 1988 auch wieder eine Reihe politischer Gruppen entstanden sind, gibt die Vielfalt der oppositionellen Bestrebungen selbst der Geheimpolizei manches Rätsel auf. Im Oktober 1988 wandte sich die „Bewegung für Bürgerfreiheit“ mit dem Manifest „Demokratie für alle“ an die Öffentlichkeit. Im Februar 1989 erschien eine Erklärung des „Clubs für sozialistische Umgestaltung“ (Obroda), die aus ehemaligen Parteifunktionären besteht, die für eine Perestroika auf sozialistischer Basis eintreten. Kriegsdienstverweigerer gründeten 1988 die „Unabhängige Friedensgemeinschaft“, und die „Initiative zur sozialen Verteidigung“ hat sich den Kampf gegen die Berufsverbote vorgenommen. Die Liste ließe sich über die „Gemeinschaft der USA-Freunde“ mit ihrem marktwirtschaftlichen Programm und der bürgerlich-liberalen „Gesellschaft Masaryk“ fortsetzen.

Wenn heute vor allem Studenten und Jugendliche auf den Straßen sind und die Theater als Foren der Diskussion dienen, zeigt sich als Triebkraft der Revolte eine neue Generation, die mit der Kulturszene eng verwoben ist. Die Tschechen verfügen über einen liebenswerten Individualismus. So ist zwar jetzt das Zusammenspiel der Oppositionellen zu einem Konzert angewachsen, das die morschen Pfeiler des Systems ins Wanken bringt. Doch niemand sollte glauben, daß damit eine politische Organisation entstanden ist, bei der alle auf ewig an einem Strang ziehen werden.

Erich Rathfelder