: Zaghaft, Zwischentöne, schrill-betr.: Bemerkungen zur Bewegung in der DDR
Bemerkungen zur Bewegung in der DDR
Jubel und Kritik, Selbstbewußtsein in der Masse. „Wir sind das Volk!“ In der DDR wird frei gesprochen. Die soufflierten Töne will niemand mehr hören, keine/r sagen. Da macht das Fernsehen Spaß. Die Aktuelle Kamera ist wirklich live dabei und interessanter als die Tagesschau. Die Leute reden offen, witzig und mäßig revolutionär, da geht was ab, und plötzlich sind sie alle kritischer denn je.
Es ist eine Lust, den Mief, die Spießigkeit, die Langeweile nicht mehr zu ertragen, die Stereotypie im Monoton. Und es ist, vom ersten Tage an, viel Skepsis mit dabei. Der Zweifel kennt sich selber nicht, die Klage ist zu einerlei. Die Probe, der Test, die Härte liegt nicht in Massenhaftigkeit; es ist die Kunst der Differenz.
Es ist nicht unverschämt zu sagen, daß die Masse so lange schwieg wie sie jetzt schrie. Warum sich schämen? „Volk“ ist ein Dumpf-Begriff. Volk kommt dem Sinne nach von folgsam sein, auch im Protest. Beide, Volk und Protest, pauschal zu feiern, heißt entweder marxistische Doktrin oder bürgerliche Zweckkultur. Wo die Individuen zum Volke werden, sind sie listig zu gebrauchen.
Schweig! Das will jetzt niemand hören. Die Feier muß ein Taumel sein!
Trotzdem, wenn die Kritik des Westens jetzt nicht in Jubel überschlagen soll, sind diese Zwischentöne angetan. Die Trauer um den Abgesang der Schön-Idee, der Sozialismus -Utopie, ist hart. Sie darf sich nicht verhärten. Die gute Anarchistenseele ist so hilflos wie der Sozialismusnerv naiv. Kapitale Freude mischt sich in das Ende der falschen Sozialität. Die Macht des großen Geldes, der Schein der Scheine, spiegelt die Elendsproduktion des Wohlstands in Arroganz und großer Kleinlichkeit. Der Sozialismus ist passe, aber längst nicht das Soziale.
Mauer weg und reisen, genießen diesen Übertritt. Dabeigewesen? Erst morgen will ich hin. Transit der Zwischenzeit, die Mauer ist nicht nur Beton. Wiedervereinigung? Das wäre das Negative, die Negation in Halbpotenz. Originale Glanzkopien. Die Grenze hat sich quergelegt.
Im Jubel sind die Töne kollektiver Eigensinn, auch in der Trauer und im Lachen sind wir meistens wirklich ganz allein. Und viele werden später einsam sein, wenn die neue Ordnung sich formiert, die Regeln wieder greifen. Genießen wir die Zwischenzeit, jetzt lohnt es nachzudenken und vor allem schon voraus. Jetzt ist „was los“, das wird es, 40 Jahre, lange nicht mehr sein.
Spielverderber? Arroganter Knopf? Resignateur? Wer den Mut zu lachen hat, der schrei. Wer mit Widersprüchen leben kann, der widerspricht. Ein bißchen neue DDR täte uns sehr wohl, der alten abgekarterten Routine im Lebens- und im Fernseheinerlei. Aber nur ein bißchen? Lau? Im Gegenteil. Wer scharf zu denken weiß, verbrennt.
Alfred Kolberg
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