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Im Modus ihrer Negation

■ Marx hat zehn Jahre darauf verwandt, im British Museum die Literatur zur klassischen Ökonomie zu studieren. Philosophie wurde zu etwas, was sie nie zuvor war: zur Forschung. Philosophische Forschung ist Philosophie im Modus ihrer Negation.

Michael Theunissen

Ich komme zu der zweiten Erfahrung, welche die uns als Philosophierenden vorgegebene Situation geprägt hat. Wie die, die Hegel in die Rückkehr zur Fundamentalphilosophie trieb, hat auch sie die Umwälzung eines Denkansatzes heraufgeführt. Ich meine den Bruch im Denken von Marx, die Wendung von seinen unmittelbar philosophischen zu seinen ökonomischen Schriften. Auch und gerade nachdem der Marxismus so sehr an Ansehen verloren hat, sollten wir nicht vergessen, daß der Wandel der Marxschen Theorie, der zwischen den Pariser Manuskripten von 1844 und dem Kapital von 1867 eingetreten ist, Philosophie in mancherlei Hinsicht zu dem gemacht hat, was sie heute auch für Nichtmarxisten ist. Im Übergang vom frühen zum späten Marx ist Philosophie zu einer Kritik geworden, mit der sie schlechterdings zusammenfällt. Soweit sie Geschichtsphilosophie ist, hat sie sich gleichzeitig von einer Theorie, die von einem Entwurf des Entwicklungsganges der Menschengattung her die Gegenwart zu begreifen versucht, zu einer solchen gewandelt, die umgekehrt, in unbewußter Anknüpfung an den damals unbekannten Hegel der Frankfurter Zeit, von der Gegenwart her das Ganze der Geschichte in den Blick nimmt. Von alledem soll hier nicht die Rede sein. Hier will ich Sie auf etwas weniger Spektakuläres hinweisen. Ich denke an die schlichte Tatsache, daß Marx zehn Jahre seines Lebens darauf verwandt hat, im Britischen Museum die Literatur zur klassischen Ökonomie zu studieren. In diesen Jahren ist Philosophie zu etwas geworden, was sie nie zuvor war: zur Forschung. Philosophische Forschung ist Philosophie im Modus ihrer Negation.

Leider kann man nicht behaupten, daß Philosophie seitdem Forschung geblieben sei. Aber wenn sie auch heute weithin nicht Forschung ist, so steht sie doch - dies wenigstens möchte ich behaupten - unter dem Anspruch, es zu sein oder so ist im Vorblick auf Späteres zu präzisieren - als Forschung anzufangen. Seriös ist Philosophie heute nur noch im Modus ihrer Negation und das heißt auch: nur als eine solche, die zunächst einmal Forschung ist. An dieser Stelle und nur an dieser Stelle bin ich geneigt, die Forderung, unter die ich mich selbst beuge, auch gegenüber anderen zu erheben. Um die Forderung zu verdeutlichen, sei unterschieden zwischen einem allgemeinen Begriff philosophischer Forschung und der bestimmten Art und Weise, wie bei Marx aufgrund bestimmter Voraussetzungen Philosophie zur Forschung wurde. Von mir selber fordere ich ein in diesem bestimmten Sinne forschend ansetzendes Philosophieren. Von anderen erwarte ich wenigstens, daß sie ihr Philosophieren überhaupt an einem Forschungsideal ausrichten. Allerdings setzt Marx, so vermute ich, zugleich Maßstäbe für alle philosophische Forschungen, die nach ihm hervorgetreten ist und hinter seinem Begriff negierter Philosophie zurückbleibt. Die Maßstäbe liegen in den bestimmten Voraussetzungen, von denen er ausgeht. Marx bringt vor allem zwei Prämissen ins Spiel. Erstens: Die Realität ist, und zwar als geschichtlich gewordene, durch kognitive Leistungen vermittelt, die ebenfalls aller Philosophie vorausliegen, in unserer Epoche vor allem durch die Erkenntnisse der Fachwissenschaften. Diese Prämisse hat Marx gezwungen, die politische Ökonomie qua Realität durch eine Kritik der politischen Ökonomie qua Wissenschaft hindurch darzustellen. Es ist hier nicht der Ort, das Verhältnis von Philosophie und Ökonomie zu diskutieren. Ich möchte Sie nur auf das Beispielhafte der von Marx im Kapital angewandten Methode aufmerksam machen. Beispielhaft ist sein Verfahren, sofern er mit ihm alle künftige Philosophie an die Fachwissenschaften verwiesen hat.

Alle relevante Philosophie ist heute, wenn auch nicht Forschung in diesem bestimmten Sinne, so doch grundsätzlich im Ansatz Forschung. Um nur die beiden Richtungen zunehmen, die Tugendhat zusammen mit der Dialektik der Hegel-Marx -Tradition auf die gemeinsame Aufgabe der Begriffsklärung vereidigt hat: die Sprachanalyse und die Phänomenologie. In der einen wie in der anderen Richtung ist Philosophie zur Forschung geworden, sprachanalytische oder phänomenologische Forschung. Der Titel des von Husserl herausgegebenen Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung will so verstanden sein, daß 'phönomenologische Forschung‘ den für sich vagen Philosophiebegriff präzisiert. An der Phänomonologie Husserls läßt sich aber auch demonstrieren, wodurch die philosophische Forschung, die nach Marx hervorgetreten ist, hinter der Marx'schen Idee zurückbleibt und inwiefern diese gleichwohl für sie verbindlich sein müßte. Husserl anerkennt gerade nicht, daß die Realität eine geschichtlich gewordene ist und daß der Philosoph ihrer zunächst nur in der vermittelten Gestalt habhaft wird, die sie durch die Erkenntnisleistungen der Fachwissenschaften angenommen hat. Darum glaubt er an eine theoriefreie Deskription, die auf die Sedimentierung geschichtlicher Erfahrungen in ihrer eigenen Sprache nicht reflektiert, und darum kann er sich zu derjenigen Wissenschaft, die weithin das gleiche Geschäft betreibt, zur Psychologie und insbesondere zur Wahrnehmungspsychologie, bloß in ein polemisches Verhältnis setzen. Aber genau an diesen Punkten stößt die Phänomenologie Husserlscher Prägung auf ihre Schranken. Die Schranken wären nur aufzuheben, wenn Phänomenologie sich von der Erfahrung, die Marx gemacht hat, über sich selbst aufklären und davon überzeugen ließen, daß sie von einer Fachwissenschaft wie der Wahrnehmungspsychologie ausgehen muß. Denn faktisch verhält sie sich zur Wahrnehmungspsychologie ähnlich wie die Sprachanalyse zur Linguistik, die vollständig rezipiert sein muß, wenn sprachanalytische Forschung ihrem eigenen Anspruch genügen will.

In dem Gesagten ist allerdings implizit schon mitgesagt, daß Philosophen sich nicht einbilden dürfen, für irgendeine Fachwissenschaft eine Grundlegung leisten zu können. Wenn die Realität als geschichtlich gewordene und heute ja schon fachwissenschaftlich zubereitete aller Philosophie zuvorkommt, dann kommt Philosophie zu spät, als daß sie für irgendetwas noch den Grund legen könnte. Einem Transzendentalphilosophen wie Kant mag man nachsehen, daß er eine philosophische Grundlegung der Naturwissenschaften prätendierte. Dann damals nahm philosophisches Denken im geistigen Leben noch eine zentrale Stellung ein. Wenn hingegen jemand wie Husserl den Grundlegungsanspruch der Philosophie emphatisch erneuert und auf alle Wissenschaften ausdehnt, so entsteht der Verdacht, daß er nicht wahrhaben will, wie sehr Philosophie ins Abseits geraten ist.

In scharfer Abgrenzung gegen jede Art von Grundlegung möchte ich den Beitrag, den Philosophie zum besseren Verständnis von Fachwissenschaften leisten kann, Reflexion nennen. Die Rede von einer Grundlegung erzeugt den Schein, als käme die Philosophie den Fachwissenschaften in Wirklichkeit doch zuvor; sie suggeriert, daß die Fachwissenschaften eigentlich auf die Philosophie warten müßten, um richtig anfangen zu können. Der Reflexionsbegriff betont demgegenüber die Nachträglichkeit philosophischen Denkens. Freilich formuliert auch er keinen geringen Anspruch, nämlich den, fachwissenschaftliche Erkenntnisse vertiefen zu können. Eine von ihm angeleitete Philosophie hält dem Forschungsprogramm von Marx auch insofern die Treue, als sie im Verhältnis zu den Fachwissenschaften eine Reflexion sein will, die in sich Kritik ist. Fachwissenschaften philosophisch reflektieren heißt: sie einer kritischen Reflexion unterziehen. Eine Philosophie, die sich nicht übernehmen will, muß sich demnach zu den Fachwissenschaften so verhalten, wie Kierkegaard sich zum Ganzen der philosophischen Überlieferung verhalten hat. Kierkegaard betrachtete es als seine Aufgabe, „die Urschrift der individuellen, humanen Existenzverhältnisse, das Alte, Bekannte und von den Vätern Überlieferte, noch einmal zu lesen, wenn möglich, auf eine innerliche Weise“. Als Innerlichkeit stellt sich hier, aus der Perspektive Kierkegaards, die Tiefendimension dar, die im kritischen Wiederlesen des Traditionstextes aufspringt. So vermag auch die kritische Reflexion von Fachwissenschaften eine Dimension freizulegen, die diesen selbst sich verbirgt. Diese Dimension ist zunächst eine der jeweiligen Fachwissenschaft selber und sodann die, welche grundsätzlich jenseits ihrer Reichweite liegt. Die Vergewisserung des fachwissenschaftlich unausschöpfbaren Grundes unseres Lebens und unserer Lebenswelt fügt sich also der kritischen Reflexion von Fachwissenschaften nicht äußerlich an. Sie mißt die Sphäre aus, welche die Reflexion aufdeckt. Auf der Linie Kierkegaards, auf der sich meine Überlegungen zur Möglichkeit von Glück in einem zeitverfallenden Leben bewegen, ist dies die Realität, die wir selber sind, auf der Linie von Marx die Realität unserer Welt. Sind dort die individuellen Existenzverhältnisse zu entziffern, die auch die Psychologie nur in einer verfremdenden Lesart aufnimmt, so hier die sozialen Verhältnisse, über welche die bloß wissenschaftliche Ökonomie hinweggeht.

Die vollständige Fassung dieses Vortrags erscheint in der „Sozialwissenschaftlichen Rundschau“, Böhlert/KT Verlag, PF 1406, 4800 Bielefeld, Heft 19. Dezember 1989

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