piwik no script img

Gedichte vom toten Vater

 ■ V O R L A U F

(Die kurze Nacht der Wahrheit, deutsche Erstaufführung, ZDF, 23.45 Uhr) Keiner will das Huhn schlachten. Doch alle wollen davon essen. Empört greift die Oma zum Hackebeil. Gackernd windet sich das Hinkel auf dem Holzpflock. Ein paar Lausebengel entführen das Federvieh und jubeln der schimpfenden Großmutter eine Krähe unter.

Mit solch derbem, volkstümlichem Humor beginnt der russische Regisseur Michail Belikow seinen Debutfilm aus dem Jahre 1981. Folkloristische Einlagen dieser Art sind jedoch stets von einer zarten, unaufdringlichen Melancholie durchzogen. Es ist die Zeit nach dem Stalin-Sieg über Hitler -Deutschland. Noch immer schnürt das Elend des Krieges dem Land die Kehle zu. „Obwohl man kein Schlachtengetümmel zu sehen bekommt, ist es ein Film über den Krieg“, kommentiert Belikow seinen Film. „Zwar sieht man keinen einzigen toten Soldaten, und doch wird von schweren Verlusten erzählt, von menschlicher Erinnerung, die auch solche Dinge bewahrt, die man besser vergessen sollte.“

Mit Bildern, die in dieser historischen Kompromißlosigkeit in der Sowjetunion bislang nicht gezeigt wurden, rekonstruiert Belikow das Klima enttäuschter Hoffnung der Sowjetvölker auf eine bessere Zukunft am Beispiel eines kleinen ukrainischen Dorfes. Dort lebt der Waisenjunge Wanja bei seiner Tante. Seine Mutter starb bei einem Bombenangriff; der Vater gilt als vermißt.

Der Junge, der mit seinem kahlgeschorenen Kopf wie ein kleiner Erwachsener aussieht, bewahrt die Briefe seines toten Vaters auf, die die Tante regelmäßig von einem Kriegsveteranen fingieren läßt. An ihre Echtheit glaubt er zwar lange nicht mehr, doch bedeuten die mit Gedichten versehenen Briefe des alten Soldaten Merkuri für Wanja ein Symbol unbestimmter Hoffnung. Perspektiven existieren nicht, weder materiell noch ideologisch. So besteht das initiatorische Moment des Erwachsenwerdens für Wanja im Zugang zu einer Art kollektiver Privatsphäre, einer Art Volksseele, in die ihn Merkuri einweiht, der trotzdem nur Vaterersatz bleibt.

Belikow dreht zu einer Zeit vor Gorbatschows kulturpolitischer Lockerung, als kritische Töne nur sehr vermittelt und metaphorisch verdichtet artikuliert werden konnten. Statt einer schildernden Anklage bemüht sich der Film, mit stillen Tönen die Spuren des Krieges aus den mit besonderer menschlicher Zärtlichkeit gezeichneten Figuren herauszulesen.

Zur Verdeutlichung der tiefgreifenden Veränderungen im sowjetischen Kino hat das ZDF dem Spielfilm einen Bericht über die neue Filmszene vorangestellt. Die Autoren Helmuth Dimko und Herbert Krill führten Interviews mit Filmschaffenden, wie dem Jungregisseur Wassili Pitschul (Kleine Vera) und Andrej Smirnow, dem Vorsitzenden des Filmverbandes.

Manfred Riepe

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen