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Parteifunktionäre unter sich? Hessens Grüne auf der Suche nach der Basis

Die Basis der Partei ist auf 1.000 Mitglieder geschrumpft / Entwicklung der letzten Jahre führte zur „Funktionärspartei“ / Verkrustete Strukturen in den Kreisverbänden / Ausgrenzungspolitik durch Entscheidungsfindung in geheimen Zirkeln / Organisationsreform soll jetzt Strukturmängel beseitigen  ■  Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Die Grünen seien nicht nur in Hessen zum „reinen Wahlverein verkommen“, meinte Joschka Fischer - Fraktionschef der Grünen im hessischen Landtag - auf dem Landesparteitag der hessischen Grünen Ende September in Bad Hersfeld. Die gesamte Partei sei mit dem „Bazillus der Organisationsschwäche“ infiziert und leide an „latenter Programmschwäche“. Der Diagnose des „spiritus rector“ aus dem realpolitischen Parteilager mochte in Bad Hersfeld noch nicht einmal ein Experte aus der fundamentalistischen Ecke widersprechen.

Daß auf dem Parteitag des lange Jahre für „agil“ (Fischer) gehaltenen hessischen Landesverbandes von den 5.000 eingeschriebenen Mitgliedern nur knapp 300 den Weg nach Nordhessen gefunden hatten, war Beleg für den von Fischer in seiner Grundsatzrede gegeißelten „maroden Zustand“ der „Funktionärspartei“ der Grünen. Mit den bestehenden Strukturen - so die Schlußfolgerung - könne in dieser Republik noch nicht einmal ein Alternativbetrieb überleben.

Parteiarbeit findet

nicht mehr statt

In der Tat: Die vielbeschworene Basis, die nach dem Selbstverständnis der Partei den Mandatsträgern die politischen Inhalte vorstrukturieren soll, ist auf allen Ebenen nur noch bruchstückhaft präsent. Kreismitgliederversammlungen werden selbst in politisch interessanten Landkreisen Hessens zu Pflichtübungen für Mandatsträger aus den Kommunen und Kreistagen. Parteiarbeit

-im Sinne von Basis- oder Öffentlichkeitsarbeit und Mitgliederwerbung - findet nicht mehr statt.

Insbesondere in den nordhessischen Landkreisen, die aufgrund der sinkenden Mitgliederzahlen und der geringeren Mandatsträgerdichte auch finanziell ausgeblutet sind, können sich die grünen Kreisverbände kaum noch eine Geschäftsstelle leisten - ganz zu schweigen von der Bestellung eines hauptamtlichen Geschäftsführers zur Koordinierung der Parteiarbeit vor Ort.

Landtagsfraktion Alleinunterhalter der Partei

Dazu kommen strukturelle Defizite im Landesverband, die den Informationsfluß innerhalb der Partei blockieren: „Die Mitglieder des Ortsverbandes“, heißt es in einem Brief des Landesvorstandes der hessischen Grünen, „wissen nicht, was der Kreisverband macht, der Kreisvorstand weiß nicht, was der LHA (Landeshauptausschuß, d.Red.) denkt oder beschließt, der LHA-Delegierte weiß nicht, was der Kreisvorstand oder irgendein Ortsverband macht und plant, der Kreisverband weiß nicht, was seine Fraktion macht - und der Landesvorstand weiß nicht, was die Kreisvorstände und die Kreistagsfraktionen machen.“ Fehlende Professionalität, katastrophale Infrastrukturen und darniederliegende Informationsstrukturen hätten die Landtagsgruppe in Wiesbaden zum Alleinunterhalter in Sachen grüner Reformpolitik avancieren lassen, „weil“, wie der Landesvorstand konstatiert, „von denen wenigstens noch was in der Zeitung steht“.

Mit dieser Zustandsbeschreibung hat sich der Landesvorstand jetzt schriftlich an die Mitglieder der Partei gewandt, auch an die „Karteileichen“. Dieses Gremium um die resolute Evelin Schönhut-Keil, den smarten Türken Ozan Ceyhun und den Pragmatiker Jürgen Frömmrich will im Landesverband - „und dann hoffentlich in der gesamten Partei“ (Schönhut-Keil) eine Strukturreformdebatte anzetteln, an deren Ende wieder ein schlagkräftiger Landesverband und für neue Mitglieder attraktive Orts- und Kreisverbände stehen sollen.

Die Bilanz, die der Vorstand Anfang November den Mitgliedern von der Bergstraße bis zum Hohen Meißner präsentierte, läßt denn auch keine Legendenbildung über das Schicksal der Partei bei Verweigerung einer „Reform an Haupt und Giedern“ (Landesvorstand) mehr zu: Von den eingeschriebenen 5.000 Mitgliedern sind 80 Prozent MandatsträgerInnen, sei es im Landtag, in den Kreistagen und in Hunderten von Stadt- und Gemeindeparlamenten. Nur knapp 1.000 Mitglieder bilden demnach in Hessen die Parteibasis. Verkrustete Strukturen in den Kreisverbänden, die potentielle Mitglieder eher abschrecken als zum Engagement in der Partei animieren würden, verhinderten die dringend notwendige Verbreiterung der Basis. Offensive Auseinandersetzungen um den politischen Kurs der Partei fänden entweder nicht mehr oder nur noch in „geheimen Zirkeln“ statt - mit der entsprechenden Ausgrenzungsautomatik.

Programmatik nicht in Sicht

Querelen um den Ökofonds runden das Negativbild ab, das die Partei derzeit in der Öffentlichkeit abgibt. Mangels Interesse oder Überlastung der gewählten Mitglieder des Vergaberates für den Ökofonds ist das Gremium derzeit nicht beschlußfähig. Aufgrund finanzieller Ungereimtheiten hat der Landesvorstand die Ökofondsgelder ohnehin gesperrt (die taz berichtete).

Daß darüber hinaus die Programmatik der Partei zehn Jahre hinter den aktuellen Realitäten herhinke, hatte bereits Joschka Fischer in Bad Hersfeld beklagt. Obgleich der leidige Fundi-Realo-Streit längst zu den Akten gelegt sei und sich die Partei gerade in Hessen mit großen Mehrheiten für den realpolitischen Weg entschieden habe, sei keine Programmatik in Sicht, die dieser neuen Konstellation gerecht würde. Fischer forderte die kontroverse Diskussion um eine „neue Programmatik“, mit der ein „dritter Weg zwischen Tradition und Modernisierung“ gefunden werden müsse. Eine fundierte Programmdebatte ist denn auch für den Landesvorstand unverzichtbarer Bestandteil der „Erneuerungsbestrebungen“ der Partei.

Zunächst will der Landesvorstand jedoch das „strukturelle Dilemma“ in den Griff bekommen. Dazu möchte er sich künftig von einem „Parteirat“ beraten lassen, der unter anderem aus Mitgliedern des Landesvorstandes und des Fraktionsvorstandes im Landtag bestehen soll, und dem auch die DezernentInnen in den rot-grün regierten Kommunen und Landkreisen, Mitglieder des Bundshauptausschusses sowie die hessischen Bundestagsabgeordneten angehören sollen. Daneben schlägt der Landesvorstand die Erweiterung des Landeshauptausschusses um je ein Mitglied aus den Kreisvorständen vor, „damit die in den Kreisen geleistete Arbeit auch an der Parteispitze sichtbar wird“.

Doch schon sprechen Kritiker von einer Ausweitung des „Institutionenunwesens“ in der Partei, die der Absicht der Basisverbreiterung zuwiderlaufe. Ein „neues Funktionärsgremium“ könne schließlich die Attraktivität der Partei gerade für junge Menschen kaum steigern. So ganz scheint denn auch der Landesvorstand der Durchschlagskraft seiner Reformvorschläge nicht zu trauen. Die Debatte um die Strukturreform müsse von der gesamten Partei geführt werden, meinte das Vorstandsgremium in seiner Erklärung an die Mitglieder. Erste Gelegenheit dazu soll der Landesparteitag der hessischen Grünen Anfang Dezember in der Opelstadt Rüsselsheim bieten. Dieser Termin fällt exakt auf den zehnten Jahrestag der Gründung der Grünen. Zum Jubiläumstanz am Abend wollte Vorstandsreferentin Margaretha Wolf zunächst die „Rodgau Monotons“ engagieren: „Volle Lotte wieder mal!“ Letztendlich setzte sich aber Ozan Ceyhun durch, der die türkisch-deutsche Formation „Mordenland“ nach Rüsselsheim holen will - nomen ist schließlich omen.

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