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1992 wird das Renault-Stammwerk geschlossen

Zu alt sei das Werk in Billancourt, meint die Direktion / CGT: Betrieb wird der EG geopfert, Paris wird zum Finanzplatz, und die Industrie geht in andere Länder  ■  Aus Paris Peter Hartl

Das Gelände des Renault-Stammwerkes Billancourt im Südwesten von Paris gleicht schon heute in weiten Teilen einer Geisterstadt. Großräumige leerstehende Montagehallen zeugen davon, daß ein Teil der Produktion bereits seit einiger Zeit in modernere Anlagen des Autokonzerns ausgelagert wurden. Von den 21.000 Angestellten 1969 sind noch 9.000 übriggeblieben, davon 5.000 in der Verwaltung.

Die Autos, 120 „R 5“ und 300 „Express„-Lieferwagen täglich, werden hauptsächlich in der Fertigungshalle auf der Seine -Insel Seguin zusammengeschraubt, die mit ihren langgezogenen, abgeblätterten Bordwänden, den qualmenden Schloten und dem Übergang zum Festland wie ein schweres altes Frachtschiff mit breiter Landungsbrücke in der Seine liegt.

In drei Jahren wird es nun endgültig ausgemustert werden. Die französische Regierung hat dem Staatsbetrieb in der vergangenen Woche grünes Licht für seine Entscheidung gegeben, die Produktion in Billancourt bis Mitte 1992 stillzulegen. Damit wird auch ein Symbol beerdigt. Billancourt hatte immer einen besonderen Klang in der Geschichte der französischen Arbeiterbewegung.

Seit „Papa“ Louis Renault 1908 hier als erster Europäer die Taylorsche Produktionsweise samt Stechuhr und Zeittakt eingeführt hatte, waren die ArbeiterInnen von Billancourt stets vorneweg, wenn es im Land Streiks und Arbeitskämpfe gab: besonders 1917/18, 1936, 1947 und 1968.

„Wenn Billancourt hustet, erkältet sich ganz Frankreich“, ließ selbst Präsident Charles de Gaulle verlauten. Vor den Werkstoren von Billancourt hatte Jean Paul Sartre 1972 den Dialog zwischen Intellektuellen und Arbeitern ausgerufen. Und hier war es auch, wo im selben Jahr der junge maoistische Student Pierre Overney von Werkschutzleuten getötet wurde.

Heute erinnert der Schauplatz der großen Reden und Demonstrationen, die „Place Jules Guesde“, die die ArbeiterInnen in „Place Nationale“ umgetauft haben, eher an einen beschaulichen orientalischen Bazar. Obst, Kleider, Cassettenrecorder, alles Denkbare wird den Renault -Beschäftigten auf dem Weg zur Arbeit zum Verkauf angeboten. An den Ständen und in den umliegenden Cafes wird hauptsächlich Arabisch gesprochen. Die weitaus meisten der 4.000 ArbeiterInnen kommen aus Nordafrika, sehr viele sind ohne jede Qualifikation und somit ohne Perspektive nach 1992, zu jung, um in Rente zu gehen, zu alt, noch eine Berufsausbildung nachzuholen, zu eingelebt, um in die Heimat zurückzukehren.

„Ich bin jetzt seit 21 Jahren in Frankreich, meine drei Kinder gehen hier zu Schule. Zu Hause in Afrika wäre ich wieder ein Fremder“, meint Ibrahim Diallo. Azedine, einem jungen Arbeiter, ist die Fabrik schon seit einiger Zeit wie ein „riesiger Wartesaal“ vorgekommen: „Man wußte, es würde irgendwann mal Schluß sein, aber ohne Datum, ohne Uhrzeit. Jetzt wissen wir zumindest, woran wir sind.“

Seit fünf Jahren war die Schließung von Billancourt immer wieder im Gespräch. Die Produktion wurde in den letzten zehn Jahren von über 200.000 Fahrzeugen auf 111.000 zurückgefahren.

Nach der offiziellen Begründung des Generaldirektors Raymond Levy ist die Anlage zu unmodern, wegen der Insellage zu unzugänglich und zu wenig ausbaufähig, um rentabel arbeiten, das heißt mindestens 900 Fahrzeuge am Tag produzieren zu können.

Für die Gewerkschaften ist dieses Argument angesichts der Milliardeninvestition von 1980 zur Renovierung der Anlage nicht stichhaltig. „In Wirklichkeit bedeutet die Entscheidung eine Kapitulation vor Brüssel“, sagt Joel Jegouzo von der kommunistischen Gewerkschaft CGT, für die Billancourt eine Hochburg war.

Die französische Regierung steckt zur Zeit in komplizierten Verhandlungen mit der Europäischen Kommission, die ihr vorwirft, dem Staatsbetrieb Renault zwölf Milliarden Francs (3,6 Mrd. Mark) Schulden erlassen zu haben, ohne die schon von der Regierung Chirac versprochenen Gegenleistungen zu erbringen: Eine Änderung des Status als staatlicher Regiebetrieb und eben auch eine drastische Reduzierung der Kapazitäten.

Für diese Verhandlungen kommt also die Ankündigung, eine zentrale Anlage des Renault-Imperiums dichtzumachen, zur richtigen Zeit.

Nach Ansicht des CGT-Gewerkschafters wirft der Binnenmarkt bereits seine Schatten voraus: „Die Schwerindustrie wird mehr und mehr in andere Länder verlagert, und Paris soll zum Finanzplatz und zum Dienstleistungszentrum Europas ausgebaut werden.“

Was mit dem 31 Hektar großen Betriebsgelände in Billancourt endgültig geschehen soll, ist noch nicht entschieden. Die Regierung Rocart hat sich beeilt auszuschließen, daß nur „Büroburgen und nichts anderes“ einmal das Gelände in der Seine-Schleife besiedeln werden. Aber auch wenn Wohnanlagen gebaut werden, versprechen sie nicht unbedingt ein soziales Preisniveau. Fünf-Zimmer-Wohnungen, die bereits in den letzten Jahren auf ehemaligem Renault-Terrain gebaut wurden, sind heute zu einem Preis von drei bis vier Millionen Francs (1,5 Mio. Mark) auf dem Markt.

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