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Wenn Diplomaten kleine Brötchen backen

In der DDR werden Ministerialbeamte und Parteifunktionäre in die Produktion geschickt / Bald eine Vorruhestandsregelung? / Verwaltungsreform: Fünf Länder statt 14 Bezirke  ■  Von Peter Paul Dürr

Die Finger suchen noch unsicher die Zahlen, der ständige Blick auf die Registrierkasse verrät die Anfängerin: In einer Berliner Kaufhalle arbeitet seit kurzem neben den gelernten Kolleginnen auch eine promovierte Politikwissenschaftlerin von der Parteihochschule der SED.

Sie ist hierher nicht strafversetzt worden, hat die hehre Lehre des Marxismus-Leninismus nicht verraten - sie folgt einzig einem Beschluß der DDR-Führung: den aufgeblähten Verwaltungsapparat abzubauen. Derweil backen Diplomaten aus dem Außenministerium Brot bei „Bako“, der hauptstädtischen Großbäckerei, lenken Fahrer von Regierungswagen Linienbusse, sichern Mitarbeiter der Staatssicherheit den Transport von Versorgungsgütern.

Der Zwang zu unkonventionellen Sofortmaßnahmen ergab sich zwingend aus der Massenausreise: 275.000 DDR-Bürger haben bis Mitte November in diesem Jahr das Land verlassen. Sichtlich gelichtet sind auch die Reihen in den Werkshallen. Gleichzeitig zählt die DDR zu den Ländern mit dem höchsten Verwaltungsaufwand in der Welt.

Die Metropole dieser Bürokratie heißt Berlin. Hier hat die SED ihren Sitz, von hier aus überzieht sie das ganze Land: Hauptamtliche Funktionäre in Betrieben und Institutionen werden von einer Kreisleitung angeleitet, die wiederum einer Bezirksleitung, die schließlich dem ZK Bericht erstattet.

Zu jedem Ministerium gehört bislang ein paralleles Kontrollorgan im Haus des ZK am Marx-Engels-Platz. Und die Regierung der DDR gehört seit langen - ganz im Gegensatz zu ihrer Machtbefugnis - zu den größten in der Welt: Das Kabinett Stoph zählte 44 Ministerien.

Und die Aufzählung aller verwaltenden Institutionen würde Seiten füllen, über 80 eingetragene Parteien, Organisationen und Vereinigungen mit Zentralleitungen, Bezirksvorständen und Kreisorganen beschäftigen Heerscharen von Mitarbeitern, die sogar in einer eigenen Gewerkschaft organisiert sind: In der „Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane und der Kommunalwirtschaft“, die knapp 900.000 Mitglieder hat. Ein übriges steuert die überzentralisierte Verwaltungsgliederung bei, mit 14 Bezirken und der Hauptstadt.

Vorreiter Dresden

In einem Teil des Landes hat man vor allen anderen begonnen, das Problem anzupacken: in Dresden. Die 1,8 Millionen Einwohner des Bezirkes haben allein in diesem Jahr 22.000 Mitbürger an den Westen verloren. Darunter waren 600 Ärzte und Schwestern, 1.300 Mitarbeiter von Handel und Versorgung, sowie noch einmal soviel aus dem Baugewerbe und dem Verkehrswesen.

Der damalige Bezirksparteichef Hans Modrow ging kühn ans Werk, und Anfang November konnte der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Dresden, Günther Witteck, verkünden, man werde 30.000 Mitarbeiter der Verwaltung in Produktions- und Versorgungsbetriebe schicken.

Mittlerweile ist Hans Modrow für die ganze Republik als Regierungschef zuständig, und schon in der Regierungserklärung ließ erkeinen Zweifel an seinen radikalen Absichten: „Die Mitarbeiter der Ministerien sollten sich an die Basis begeben, um sich mit ihrer ganzen Kraft für Kontinuität der Produktion einzusetzen (...) In diesem Zusammenhang ist Dank und Anerkennung zu sagen den vielen Angestellten, Mitarbeitern gesellschaftlicher Organisationen und nicht zuletzt den Angehörigen der Schutz und Sicherheitsorgane für ihren Einsatz vor Ort zur Lösung volkswirtschaftlicher Aufgaben. Sicher sind damit noch nicht alle Möglichkeiten des Einsatzes von Kräften aus Verwaltungen erschlossen.“

Seitdem geht in den Büros die Angst um. 16 Ministerien hat Modrow mit einem Federstrich liquidiert, sein Kabinett zählt „nur“ noch 28 Fachminister. Was wird aus uns, fragen sich nun viele Mitarbeiter, und ihre Sorge wird noch verständlicher, wenn man sich die Altersstruktur der Ministerialbeamten ansieht: Die meisten sind „Aktivisten der ersten Stunde“, sie haben seit den Gründertagen der DDR dem Apparat gedient.

Heute wissen die Mittfünfziger eines ganz sicher: Mit ihren Kenntnissen, Erfahrungen und ihrem veralteten Wissen können sie in den Betrieben rein gar nichts ausrichten.

Die meisten höheren Kader haben an der Parteischule den Grad eines „Diplom-Gesellschaftswissenschaftlers“ erworben, der ihnen nun in der Stunde der Entscheidung ebenfalls herzlich wenig nutzt. Sie wären allenfalls in der Lage, an die Basis zu gehen und in alter Manier die Arbeit der SED anzukurbeln. Dafür jedoch gibt es wenig Bedarf, hat sich doch die Parteibasis längst dagegen ausgesprochen, weiterhin „hauptamtlich“ angeleitet zu werden.

ZK-Apparat in Auflösung

Der ZK-Apparat ist bereits in Auflösung begriffen. Nach dem Versprechen von Politbüromitglied Wolfgang Herger vor dem Parlament, daß die SED der Regierung nie wieder in die Arbeit hineinreden wolle, müssen nun die parallelen ZK -Abteilungen abgeschafft werden. Wie zu hören ist, soll die Mehrzahl der Mitarbeiter an die Basis in allen Teilen des Landes entsandt werden, um dort den Bestand der Einheitspartei zu sichern.

Dissens meldet mittlerweile die Gewerkschaft der Staatsangestellten: Man könne es nicht hinnehmen, daß die Regierung und ihre Organe solch „unkontrollierte und konzeptionslose“ Entscheidungen treffe. Gegen ein arbeitsrechtlich ordnungsgemäßes Herangehen an die Rationalisierung sei nichts einzuwenden, doch bedürfe es eines konzertierten Herangehens zwischen Regierung und Gewerkschaftsführung.

Und schon lauert die nächste Attacke auf das überzählige Büropersonal. Diesmal kommt der Angriff aus den Reihen der Blockparteien. National- und Christdemokraten haben in der Aussprache zur Regierungserklärung gefordert, das Land verwaltungsmäßig neu zu gliedern.

NDPD-Fraktionsvorsitzender Günter Hartmann sagte dazu vor den Abgeordneten der Volkskammer: „Vielen in unserer Partei scheint zu einem angemessenen Zeitpunkt die Neugliederung der DDR in Länder und Freie Städte geeignet, die Identität der Bürger mit ihrem Gemeinwesen exemplarisch zu erhöhen. Uns will scheinen, daß Reformen nicht nur um ihrer selbst willen und an imaginären Gebilden durchgeführt werden können, sondern daß dazu auch klare, überschaubare Strukturvorstellungen gehören.

Strukturen also, die historisch wie ethnisch ihre formende Lebenskraft vielfältig unter Beweis gestellt haben. Es dürfte wahrscheinlich wenig Zeit erfordern, bis Brandenburger, Sachsen, Anhaltiner, Thüringer und Mecklenburger aus ihren Ländern mustergültige und unverwechselbare politische Einheiten schaffen.“

Der Vorschlag birgt politisches Dynamit, will er doch nicht nur 14 bestehende Verwaltungen unter SED-Dominanz abschaffen, sondern in den neuen fünf Ländern auch neue Proporzverhältnisse in der Verwaltung einführen. Damit bleiben die wenigsten alten Staatsdiener im Amt.

Diese Verwaltungsreform jagt der Staatsbürokratie nun endgültig den Schauer über den Rücken: Niemand weiß zur Stunde, was aus den vielen zehntausend Beschäftigten wird, die dann entlassen werden sollen.

Umschulen läßt sich wahrscheinlich nur der geringste Teil der Freigesetzten, bei den meisten kommt alles zu spät. Sie fürchten sich, noch einmal Neues lernen zu müssen, fühlen sich gedemütigt und wollen sich auch nicht mehr dem Spott der Produktionsumwelt aussetzen, die für sie ein Buch mit sieben Siegeln ist.

Vorruhestand als Lösung?

Da die Mehrzahl auch wenige Jahre vor der Rente steht, wird nun von seiten ihrer Gewerkschaft eine Lösung ins Spiel gebracht, die den Spareffekt wieder konterkarieren würde: eine bislang in der DDR beispiellose Vorruhestandsregelung. Damit würden zu den international höchsten Rentnerzahlen auf einen Schlag weitere Zehntausende hinzukommen. Die Kaufhallen, Krankenhäuser, Altersheime, Werkhallen hingegen würden weiterhin auf Ersatz für die davongelaufenen Kollegen warten.

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