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„Jeder Bezirk möchte gerne Kreuzberg haben“

■ Bürgerforum im Ostberliner Stadtbezirk Friedrichshain / Von lokalen Umweltproblemen und Akten, die aus dem Rathaus verschwinden sollten / Politiker der Wilmersdorfer Alternativen Liste suchten die Partnerschaft

Seinen Abschluß fand das Bürgerforum, das am Montag abend in Friedrichshain begann, erst gestern vormittag: Bürger, Volkspolizisten und der Staatsanwalt patrouillierten durch das Rathaus des Ostberliner Stadtbezirks. Den Verdacht, dem sie nachgingen, hatte ein SED-Mann am Abend verbreitet: Akten würden aus dem Ratsgebäude geschleppt und auf Lastwagen verladen. Bezirksbürgermeister Borbach waren zwar „keine Informationen bekannt“, doch das wurde am Montag abend mit Gejohle quittiert, und Borbach wurde mit Bürgerbegleitung losgeschickt, die Rathausräume zu versiegeln.

Am Dienstag früh wurden Bürger und Staatsorgane fündig: „Sammeltüten“, gefüllt mit Akten über Ausreisewillige und ausgereiste DDR-BürgerInnen, mit Unterlagen über ehemalige Haftgefangene und Kaderakten von SED-Bezirkspolitikern habe man entdeckt, berichtete anschließend Mario Hahmel von der örtlichen Initiative der grünen Partei.

Geplant hatte Hahmel diesen Verlauf nicht. Auf dem Bürgerforum in einer Schul-Aula in der Rigaer Straße hatte am Montag abend alles noch ganz anders begonnen. Eine Radfahrerin beklagte die bisherige Verkehrspolitik mit dem „Auto im Mittelpunkt“, plädierte für mehr Radwege und löste prompt eine heftige Diskussion aus: Sollte man nun Radspuren auf der Autofahrbahn fordern oder Radwege auf dem Gehsteig, so wie in West-Berlin? Die viel zu kleinen Baumscheiben an den Straßen trieben die Referenten um, und der Baudezernent des Stadtbezirks war „sehr erfreut, daß so konkrete Fragen angesprochen werden.“

Die ganze erste Stunde hatten die Organisatoren von der grünen Partei für lokale Umweltprobleme reserviert. Neben ihnen saßen zwar SED-Bezirksgrößen, Vertreter von „Demokratischer Aufbruch“ (DA) und „Demokratie Jetzt“ auf dem Podium; doch sie drangen nicht durch. Vergeblich warnte DA-Mann Peter Schneider, die Umwelt dürfe an diesem Abend nicht das „allererste Thema“ sein. Mario Hahmel machte Schneider Vorwürfe: Der DA habe sich „an der Vorbereitung kaum beteiligt“. „Macht ihr schon Wahlkampf?“ - Dieser Zwischenruf aus dem Publikum kam prompt.

Langsam und mühselig drang die Empörung über den vermeintlichen oder tatsächlichen Aktenabtransport durch. Vorher stellte sich noch eine Delegation aus dem Westen vor. AL-Politiker aus Wilmersdorf waren gekommen und sammelten Applaus und Bravo-Rufe, als sie für „Partnerschaft“ statt „Patenschaft“ plädierten. Wilmersdorfs AL-Baustadtrat Szelag wollte die Diskussion zwar „nicht mit Detailfragen belasten“, erwähnte aber doch seinen Plan, die Baumscheiben in Wilmersdorf von einem auf vier Quadratmeter zu vergrößern.

Ob Wilmersdorf überhaupt der richtige Partnerbezirk für Friedrichshain sei, fragte dennoch ein Mann aus dem Publikum. Ob nicht Wedding besser wäre oder Kreuzberg? Gelächter schlug ihm entgegen, und eine Friedrichshainer Grüne bat um Bescheidenheit: „Jeder Stadtbezirk möchte hier gerne Kreuzberg haben. Da ist jetzt Wilmersdorf. Macht daraus das Beste.“

hmt

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