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Invasion der Heuschrecken

Ein Plädoyer für den Pflichtumtausch  ■ G A S T K O M M E N T A R

Hurra, wir kommen. So billig läßt sich kein Reiseland stürmen. Für 20 Pfennig tanken, für 'ne Mark den Magen vollschlagen, für zwei Mark eine Flasche französischer Rotwein, Bücher ab 50 Pfennig, ein Bier für 'n Groschen.

Kein Pflichtumtausch hält die Wessis mehr, wie die Heuschrecken werden sie einfallen. Sobald im Frühling die ersten Sonnenstrahlen wärmen, sind Müggel- und Scharmützelsee, sind Potsdam und Dresden fest in unserer Hand. Die wenigen Gaststätten und Strandbäder, die schon bisher nicht reichten, werden jetzt erst richtig überlaufen. Und lassen die Verwandten aus dem Westen nur Valuta springen, ist die Vorzugsbehandlung auch in diesem unsren neuen Reiseland gesichert - an der Schlange vorbei. Wie wunderbar, Ostern nach Thüringen, im Sommer nach Portugal, jeder Studi kann sich das leisten. Eine wirkliche soziale Errungenschaft. Kratzt man am Hochglanzlack der schwarz-rot -gelben Deutschlandpolitik dieser Tage, kommt ein nach wie vor eiskaltes Geschäft dabei heraus - mit dem einfachen Ziel, die angeschlagene DDR sturmreif zu machen. Klar, die ohnehin wohlfeilen Visa und Berechtigungsscheine mußten weg, endlich. Und nichts mehr gegen soziale Gerechtigkeit beim Eintritt in die DDR, im Gegenteil. Nur treibt die asoziale Klassenspaltung in Wessis und Zonis erst auf die Spitze, was da allenthalben bejubelt wird. Welch neue Naivität, wo es sich um die Erpressung eines Ertrinkenden handelt. Die unterbewertete Mark der DDR macht einen Pflichtumtausch unverzichtbar. Härteausgleich ließe sich auch anders herstellen. Rentner zahlten bisher schon weniger, Kinder waren „frei“, Jugendliche tauschten 7,50 Mark. Auch eine Reduzierung des Pflichtumtauschs wäre denkbar gewesen, oder ein Pflichtumtausch von 25 Mark für die Einreise mit dem Auto. Welche Wessis hätten nicht eingesehen, daß dieses Eintrittsgeld zweckgebunden für den dringend erforderlichen Ausbau des Tourismus in der DDR verwendet würde. Nein, ihr Brüder und Schwestern, so sehr sich eure Verwandten zu Recht freuen können - zieht euch warm an.

Volker Härtig

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