: Unter der Sonne zur Freiheit
■ Premiere bei Shakespeares „Die Erfindung der Freiheit“ / Über den Traum vom Fliegen
Fliegen ist menschlich. Okay, okay, Vögel und Mücken tun's auch, aber Fliegen ist die menschliche Erfindung schlechthin und beflügelt schließlich einen ganzen Assoziationshangar. Also Fliegen: alt, uralt, Traum, der Menschheit. Man sieht vor dem geistigen Horizont einen kleinen zerbrechlichen Schneider aus Ulm (wahlweise Thilo Prückner), eine spektakuläre Flügelflucht aus Kreta, tollkühne Männer in ihren tollkugeligen Kisten, Juchhuzen im Himmel, Schwimmen im Luftmeer, unter der Sonne zur Freiheit, Traummaschinen. Danach kommen die Maschinen-Träume: Gebrüder Wright, tollkühne Bubikopffrauen, Charles Lindbergh, der kleine Prinz, Reinhard Mey. Eingeklammert von den motorisierten Alpträumen. Die Erde verlagert ihr Jammertal bis in den Luftraum, der nun Grenzen hat und Feinde.
Es gibt natürlich noch das Volksmundige: Wer hoch steigt, fällt tief, runter kommen sie immer, nur Fliegen ist schöner, alle Vögel fliegen hoch, grüß mir die Sonne, lieber Gott, was es alles gibt zwischen Himmel und Erde, wo soll man da anfangen und aufhören. Schließlich haben auch fast alle Geistesfürsten seit Denkbeginn der Menschheit zum Thema reflektiert.
Pit Holzwarth hat nun, zusammen mit einem Ensemble der Sha P. Lüchinger und H. Darjes
kespeare Company, das Fliegen und den Traum davon erarbeitet und auf die Bühne gebracht: „Die Erfindung der Freiheit oder kann denn Fliegen Sünde sein?“. Also: als die Menschen und ihre Bilder fliegen lernten. Den Himmel zu erobern, hieß: Sieg der Vernunft, Abschiednehmen von der Erdgebundenheit, Einsicht in und Überblick über weit auseinanderliegende Zusammenhänge. Man wächst über sich hinaus und nähert sich den Göttern. Nicht nur die Kirche findet das pfui.
Weil mit dem Fliegen eine neue Zeitrechnung beginnt, bedeuten im Stück die Bühnenbretter tatsächlich die Welt. Ein stoned-washed-verwischter Tuch-Himmel lappt von einer hohen Leine, davor-darunter-dahinter wenige und durch den Himmelsstoff abdeck-und dadurch wandelbare Requisiten: bestuhlte Tische zu Betten zu Altaren. Noch ist niemand geflogen. Wir sind in Frankreich und greifen 1783 mit Monsieur Blanchard nach den Sternen. Blanchard ist einer der ersten Ballontüftler, ein genialer Aeronaut und doch tragischer Verlierer, weil die Brüder Montgolfier ihm im Juni 1783 zuvorkommen. Aber er meldet sich zurück, erfindet den steuerbaren Ballon, überquert als erster den Kanal und ist im weitesten Sinne Handlungsträger. Blanchard steht für geblendete Panorama-Euphorie und Heiterkeit im Himmel. Bis zum Bauch in der Bühnenversenkung, simuliert er zartes Auf und Nieder und fragiles Glück im Ballon. Auch bei Mönchs läßt der Himmel einem keine Ruhe. Mit bügelbrettartigen Flügeln versucht Pater Josquin erst sich im Fliegen und deshalb Gott und hat davon, daß er verstoßen wird. Aber und das hat davon, wer auf dem Boden bleibt - unten im vorrevolutionären Frankreich brummt das Volk. Soll es sich nun beim König we Foto: Foru
gen all der Ungerechtigkeit beklagen oder nicht? Jedenfalls ist das Fliegen nicht jedem recht: denn wer fliegt, ist auch ein potentieller Überflieger. Des Königs nämlich, der doch keinen über sich duldet.
Die collagenartige Szenerie wird durch die konkrete Idee vom und die abstrakte Sehnsucht zum Fliegen gebunden. Und mit Handlungshelfern: dem Knaben von Joseph und Marie (!), ganz arg arm und engelversessen; dem Adel, ganz arg dekadent; dem
Philosophen, ganz arg visionär, dem Kaufmann, ganz arg mit Schokolade handelnd. Ein buntes Völkchen-Personal, das un und mittelbar zum Fliegen eine Perspektive beisteuert; von fünf Schauspielern (Christian Kaiser, Hille Darjes, Gabriele Blum, Peter Lüchinger, Renato Grünig) mit durchschnittlich vier Rollen zum endgültigen Kanalüberquerungsstart getragen.(An Klavier, Schlagzeug, Akkordeon - nacheinander Willy Daum.) Das geht ab wie die Flugpost und kommt bestens an, die Figuren ironisieren sich, sind verzückt entrückt, rasant präsent, innig albern; das ist schrill und still, nachdenklich schlank und euphorisch kakaobauchig, saukomisch und tragisch. Und manchmal ein bißchen zuviel von allem: zuviel geballtes Perspektivenpaket, zuviele Assoziationen, zuviel bebilderte Geschichtstunde, zuviel vollmundige Wahrheit, Freiheit, Bedeutsamkeit. Vielleicht wäre weniger mehr gewesen. Das vollzählige Publikum haben die Shakespeares aber wieder begeistert mit dieser Mischung aus Komödie, Tragödie und Historie. Claudia Kohlhas
Weitere Vorstellungen: 8., 9., 15., 29.12.
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