Nichts als ein paar nette Worte

Birgit Cramon-Daiber, als Abgeordnete der Grünen im Europaparlament zuständig für Soziales, zur Sozialcharta  ■ I N T E R V I E W

taz: Welche Themen stehen auf dem EG-Gipfel, der heute in Straßburg beginnt, auf der Tagesordnung?

Cramon-Daiber:Wahrscheinlich werden die Staats- und Regierungschefs der zwölf EG-Staaten versuchen, wieder alles unter das große Thema Osteuropa zu packen. Vorgesehen sind jedoch die Wirtschafts- und Währungsunion und die europäische Sozialcharta.

Sind die Grünen mit der Sozialcharta, wie sie in Straßburg vorgelegt werden soll, zufrieden?

Die feierliche Erklärung, die da in Straßburg unterzeichnet werden soll, reicht nicht aus, da im wirtschaftlichen Bereich durch konkrete Gesetze Tatsachen geschaffen werden. Wir brauchen eine rechtsverbindliche Charta, die auf die nationalen Sozialgesetzgebungen Einfluß nehmen kann. Außerdem geht es nicht darum, auf der einen Seite zwar die soziale Sicherung der ArbeitnehmerInnen zu gewährleisten, auf der anderen Seite aber alle anderen, die vom Erwerbsarbeitsprozeß ausgeschlossen sind, in einem autoritär kontrollierten Abhängigkeitsverhältnis unter anderem durch Sozialämter zu halten. Es geht darum, ein materielles Existenzrecht, ein Grundeinkommen für alle zu sichern.

Was muß sich ändern?

Man muß in der EG einfach kapieren, daß Erwerbsarbeit im klassischen Sinn nicht mehr das einzige Bestimmungselement für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Grundlage der materiellen Existenz sein kann. Man muß auch andere Bereiche von Arbeit neu und selbstbestimmt gestalten können. Wir haben einen neuen Begriff geprägt: den der Armutsarbeit. Sie ist nur darauf ausgerichtet, das Überleben in einer sehr elenden Form zu sichern.

Meint diese Überlebensarbeit nur halbfeudale Arbeitsverhältnisse, wie es sie in einigen landwirtschaftlichen Regionen Südeuropas gibt, oder gibt es Armutsarbeit auch hier?

Die tägliche Überlebensarbeit, die SozialhilfeempfängerInnen zu leisten haben, ist auch eine Form von Armutsarbeit sowie die unbezahlte Arbeit außerhalb des Erwerbssystems, die als Ausbeutung der Ressource Mensch stattfindet. Bei uns in Berlin wird das vor allem an der Situation von Flüchtlingen und Ausländern sichtbar. In den Metropolen findet ein Umverteilungsprozeß zuungunsten der sozial Schwachen statt. Schlechtbezahlte Arbeit wird immer mehr von Frauen und Randgruppen ausgeführt.

Schneidet die Bundesrepublik im EG-Vergleich nicht eigentlich ganz gut ab?

Auch in der Bundesrepublik muß ganz dringend etwas geschehen. Auch hier haben wir über die Sozialhilfe ein autoritäres Kontrollsystem, das den Sozialhilfeempfängern die Möglichkeit verwehrt, materiell angemessen zu leben. Ein relativ vorbildliches Sozialsystem haben in der EG lediglich die Niederlande und Dänemark.

Lamentieren die EG-Parlamentarier nur laut? Oder hat ihre Kritik an den Brüsseler Plänen irgendwelche Konsequenzen?

Die Abgeordneten der Regenbogenfraktion wollen eine alternative Sozialcharta entwickeln, um den Diskussionsprozeß in der EG voranzutreiben. Außerdem müssen wir klarmachen, daß die Sozialcharta lediglich einen legitimatorischen Charakter für die Regierungschefs hat, um ihr schönes Werk Binnenmarkt um ein paar nette Worte zur sozialen Dimension zu erweitern.

Wird die Entwicklung in der DDR und in Osteuropa als Alibi benutzt, um von den Problemen der EG abzulenken?

Ganz bestimmt. Alle versuchen ihre Blütenträume von Superpower und ich weiß nicht was auf den Prozeß drüberzustülpen und da möglichst viel Profit rauszuschlagen. Der Demokratisierungsprozeß in der DDR kann nur dadurch anerkannt werden, daß die Bundesrepublik diesen Staat endlich anerkennt.

Und was ist mit Polen und Ungarn?

Die EG will die Länder des Ostens nutzen, und zwar meiner Meinung nach wie Schwellenländer. Sie ist natürlich interessiert daran, dieses Hinterland als Billiglohnland und als Absatzmärkte zu nutzen. Sie hat aber kein Interesse daran - das zeigen auch die Polen-Verträge -, dort binnenwirtschaftliche Entwicklungen zu unterstützen.

Interview: Beatrix Bursig