: Gewaltsames Ende einer friedlichen Aktion
Istanbuler Studenten wurden erst von bewaffneten Faschisten verprügelt und dann von der Polizei festgenommen / Täglich wiederholt sich der Kleinkrieg mit der Polizei / Eine neue Generation formiert sich im Protest gegen Hochschulgesetze und Kontrollen ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
„Die Räuberbanden dürfen nicht Herr über dieses Land werden.“ Der Refrain des populären Volksliedes, das die Studenten singen, verstummt. Polizisten schlagen die Scheiben der Journalistenhochschule an der Universität Istanbul ein. Ununterbrochen werfen sie Tränengasbomben in das Gebäude. In panischer Anst flüchten die Studenten. Ein paar Molotow-Cocktails fliegen auf den Panzerwagen, der vor dem Eingang des Gebäudes postiert ist. In dem stockdusteren Seminarraum, in welchem ich vor dem Tränengas Schutz suchte, heult eine Frau. „Ich wußte nicht, daß die Besetzung so ausgehen wird.“ Nach einer Weile werden die Studenten unter Prügel in die Polizeibusse getragen: 160 in Haft bei der politischen Polizei in Istanbul. Zehn Studenten wurden krankenhausreif geschlagen: das gewaltsame Ende einer friedlichen Besetzung am Freitag vergangener Woche. Grund des studentischen Protestes: die Kantine war wenige Stunden zuvor von rund 300 bewaffneten Faschisten der Zeitschrift 'Bizim Ocak‘ (Unser Herd) gestürmt worden. Mit Stangen schlugen die ehemaligen „Grauen Wölfe“ auf die „antinationalen und antiislamischen Kräfte“ ein. Die ansonsten nicht zimperliche Polizei schaute dem Treiben der unifremden Militanten zu und ließ sie unbehelligt abziehen.
Seit der blutigen Räumung der Journalistenhochschule will der studentische Protest nicht verstummen. „Laßt unsere Freunde frei“ ist mit roter Farbe auf den Beton des Campus der Universität Istanbul gemalt. Mit bescheidenen Forderungen gehen die Studenten auf die Straße: „Für eine wissenschaftliche Ausbildung.“ „Für demokratische Rechte.“ „Für die Sicherheit von Leib und Leben.“ „Schluß mit der Kollaboration von Univerwaltung und Polizei“.
Tag für Tag ein Kleinkrieg mit der Polizei. Verbittert schlugen Studenten die Polizeiwache in dem Universitätsgelände kurz und klein. In Adana griffen am Mittwoch dieser Woche Studenten während einer Protestkundgebung gegen die Verhaftungen in Istanbul einen Zivilpolizisten an. Mit gezückten Waffen schlug die Staatsmacht zu: 300 Festnahmen am Mittwoch. „Illegale“ Studentendemonstrationen am Donnerstag in Istanbul. Der Marsch wird aufgelöst, in den umliegenden Geschäften jagt Polizei die Demonstranten: 30 Festnahmen. „Die Unschuldigen werden mit Schlagstöcken zusammengetrieben, gefoltert. Die wahren Schuldigen laufen frei herum“, schimpft eine Mutter, deren Tochter unter den Festgenommen der Journalistenhochschule ist. Der Menschenauflauf vor dem Staatssicherheitsgericht am Mittwoch - gegen 76 der 160 Studenten wird Haftbefehl ausgestellt - wird auseinandergetrieben. Wieder vier Festnahmen.
„Wir haben die Gängelung, die Kollaboration von Verwaltung, Polizei und faschistischer Bewegung satt“, sagt die Studentin Havva Suicmez. Der Überfall von bewaffneten Faschisten auf die Istanbuler Universität hat das Faß zum Überlaufen gebracht. Die Militärs, die 1980 putschten, hatten die Universitäten als „ideologischen Unruheherd“ ausgemacht. Durch ein neues Hochschulgesetz wurden die Universitäten der totalitären Kontrolle einer staatlich ernannten Hochschulbehörde (YÖK) unterworfen. Die ernannten Rektoren sind weisungsgebundene Beamte, die mit der Polizei zusammenarbeiten. 1982 kündigten Tausende Dozenten oder wurden per Dekret der Kriegsrechtsverwaltung aus dem Hochschuldienst entlassen. Durch ständige Polizeipräsenz und Ausweiskontrollen sollte die Friedhofsruhe an den Universitäten sichergestellt werden. Denunziationen und Bespitzelung gehören zum Alltag. Ein typischer Repräsentant der law-and-order-Gesinnung nach dem Putsch ist der Leiter der Journalistenschule an der Universität Istanbul, Tayfun Akgüner. Studenten, die seine Vorlesungen besuchen, müssen Lebenslauf und Lichtbilder (von vorne und Profilaufnahme) einreichen. Ansonsten droht er mit Disziplinarstrafen. „Die Fotos wandern zur Polizei“, sagen die Studenten.
Eine Schlagzeile „Die Revolution der Jugend“. Dazu ein Foto: Studenten mit Victory-Zeichen. „Dies ist die kommunistische Tschechoslowakei“, informiert die türkische Zeitschrift 'Sokak‘ in ihrer jüngsten Ausgabe. Auf der nächsten Seite ein Foto: vom Polizeieinsatz geschundene Studenten. „Dies ist die demokratische Türkei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen