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Führende Rolle der KPdSU angeknackst

■ 'Prawda‘ schlägt vor, im Streit mit der litauischen Partei einzulenken / Nicht an „Buchstaben festklammern“ / Führende Rolle der KPdSU dürfe jedoch nicht in „Feuerwehrsaktion“ gestrichen werden / Politischer Hintergrund: Debatte um Mehrparteiensystem

Berlin (dpa/taz) - Kurz vor dem am Wochenende einberufenen Plenum des Zentralkomitees der KPdSU hat das sowjetische Parteiorgan 'Prawda‘ erstmals bei dem Streit um die führende Rolle der kommunistischen Partei eingelenkt. Denn seit Monaten schon fordern die baltischen kommunistischen Parteien angesichts der Entwicklungen in ihren eigenen Ländern, das Mehrparteiensystem zuzulassen. Erst am Donnerstag hatte der litauische Oberste Sowjet mit großer Mehrheit den Verfassungsartikel über die führende Rolle der kommunistischen Partei aus der Verfassung gestrichen und damit ein Beispiel gesetzt, dem nun auch die Obersten Sowjets von Lettland, Estland und auch Armenien nacheifern werden. In einem Leitartikel hieß es gestern in der 'Prawda‘ zu diesem Komplex, daß „man sich nicht am Buchstaben konkreter Formulierungen festklammern“ dürfe, im Zuge der Perestroika müsse auch „gründlich an der Vervollkommnung unserer Verfassung gearbeitet werden“. Im Rahmen dieser Verfassungsdebatte können auch der Artikel6, in dem die alte Breschnewführung erst 1977 die führende Rolle der KP festschreiben ließ, „neu bewertet und modernisiert werden“. Das Blatt warnte jedoch davor, diesen Verfassungsartikel in einer „Feuerwehraktion“ zu streichen. Es gelte sorgfältig zu erwägen, ob die „künstlich angefachte Debatte für eine unverzügliche Streichung von Artikel6 der Sache der Perestroika nützt“. Hintergrund für die Reaktion der 'Prawda‘ ist die immer heftiger werdende Debatte um das Mehrparteiensystem in der Sowjetunion, die auch auf der in der nächsten Woche beginnenden Sitzung des Obersten Sowjet eine Rolle spielen wird. Bei der Abstimmung über die Frage, ob die „führende Rolle der Partei“ auf der Tagesordnung des Kongresses der Volksdeputierten gesetzt werden könnte, hatte nämlich eine knappe Mehrheit dagegen gestimmt. Daraufhin ergriff eine Gruppe von Abgeordneten, unter ihnen Andrej Sacharow, die Initiative und hat für den nächsten Montag zu einem Warnstreik aufgerufen, um die Aufnahme der Streichung des Artikels6 aus der Verfassung in die Tagesordnung zu erzwingen.

In den baltischen Ländern wird jetzt sowieso nur vollzogen, was sich in diesem Jahr schon entwickelt hat. Denn in diesen Ländern ist das Mehrparteiensystem de facto schon eingeführt. Nach der Gründung der grünen Parteien im Frühjahr und Frühsommer dieses Jahres hatten sich erst kürzlich auch die Sozialdemokraten konstituiert. „Die Bedingungen für diese Entscheidung waren in Litauen schon lange reif, in Moskau hält man das für eine radikale Sache, doch für uns ist das nur noch eine normale Erscheinung“, ist die Stellungnahme eines Mitgliedes der litauischen KP zu dem Beschluß des Obersten Sowjet der Republik. Die Uhren gehen in diesen Ländern anders, schneller eben als in Rußland selbst.

Ähnlich wie in Ungarn, Polen, der CSSR und der DDR liegt in den baltischen Ländern die Perspektive der KPs nur noch im demokratischen Wettstreit mit anderen Parteien, und zwar als sozialistische Volksparteien.

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