: UdSSR: Artikel 6 steht nicht zur Diskussion
Parteichef Michail Gorbatschow will vorerst an der führenden Rolle der KPdSU nicht rütteln / Führende Rolle der russischen Kommunisten jedoch abgelegt / Fortan gibt es neben der KPdSU auch russische KP / Fernsehen meldet: Massenweise Austritte aus der KPdSU ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
„Wir betrachten die Kommunistische Partei als Kraft der Konsolidierung und Einheit, wie auch als Garant der revolutionären Erneuerung des Landes der Sowjets“, beschwor Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow am Samstag das Plenum des Zentralkomitees der KPdSU. Mit anderen Worten: Nicht zur Diskussion stehen soll Artikel 6 der Konstitution, der die zunehmend kritisierte „führende Rolle“ der Partei im Staate festlegt. Auf der gleichen Sitzung entschied sich das Politbüro jedoch für die Wiedergründung eines Parteibüros der Russischen Föderativen Sowjetrepublik. Das ist gleichbedeutend mit der Aufgabe des imperialen Anspruchs der russischen Kommunisten.
Das Gremium wurde 1966 abgeschafft, als unter Breschnew die russische und die gesamtsowjetische Partei praktisch miteinander verschmolzen wurden. Den Vorsitz soll nun ebenfalls Gorbatschow führen, der damit das vierte hohe Amt in seiner Person vereint. Nachdem der neue Leningrader Parteichef, Gidaspow, kürzlich Gorbatschow und den Perestroika-Kurs auf einer Massenversammlung unverhohlen angegriff, hatte man in Moskau letzte Woche auch eine Schmälerung der Machtbefugnisse des Generalsekretärs für möglich gehalten. Forderungen nach einem baldigen außerordentlichen Parteitag will das ZK offenbar mit einer erweiterte Plenarsitzung des Politbüros im nächsten Januar zuvorkommen.
Die Präsentation der Plenumsbeschlüsse in den sowjetischen Medien am Samstag abend deutet auf eine Pattsituation im ZK hin. Dabei will sich der Reformflügel offenbar die Möglichkeit erhalten, flexibel auf die Entscheidung der KP Litauens zu reagieren, sich noch vor Jahresende nach föderativem Prinzip neu zu konstituieren. Noch vor der Aufhebung des Artikels 6 bedeutete dies den ersten Schritt zum Mehrparteiensystem. Sollte die litauische Entscheidung unabwendbar sein, würde der Kampf um die Zukunft der Union zunehmend zwischen den Parteiorganisationen verschiedener Republiken ausgetragen.
Das wiedergeborene russische Parteibüro könnte den Konservativen hier als Operationsbasis dienen: Vom Vorsitzenden abgesehen, ist es fast ausschließlich mit Hardlinern besetzt - darunter auch Gorbatschow-Gegner Gidaspow.
Während auf dem ZK-Plenum Gorbatschow den litauischen Parteichef Brasauskas persönlich davor warnte, die Einheit der KPdSU zu zerstören, stellte am Abend die Fernsehsendung Vremja den litauischen Weg als eine von mehreren möglichen Optionen dar. In einem unüblich langen Beitrag zur inneren Problematik der Partei kam Brasauskas ausführlich zu Wort. „500.000 Menschen sind in diesem Jahr bereits aus der Partei ausgetreten, und schätzungsweise ein Viertel der Mitglieder lauern nur auf die nächste Gelegenheit“, konstatierte ein anderer Interviewpartner. Am Beispiel des Leningrader Fräsers Bogomolov demonstrierte die Sendung den umgekehrten Fall: Der hochangesehene Facharbeiter wurde aus der Partei ausgeschlossen, weil er der Leningrader Volksfront angehört und öffentlich die Streichung des Artikels 6 aus der Konstitution fordert. „Die wahren Kommunisten verlassen heute sowieso die Partei“, meinte dazu einer seiner Kollegen. Selbst Kreml-Chefideologe Vadim Medwedjew mochte auf einer Pressekonfernez am Samstag abend den Artikel nicht mehr zum Tabu erheben. Für die Partei, so formulierte er vorsichtig, zeichne sich eine Situation ab, „in der sie ihre Politik erst entwickeln und dann um die Unterstützung der Wähler kämpfen muß“.
Zu einem zweistündigen Warnstreik im ganzen Lande hatten letzte Woche einige Präsidiumsmitglieder der „Überregionalen Deputiertengruppe“, aufgerufen, darunter Nobelpreisträger Andrej Sacharow, um eine Abstimmung über den umstrittenen Artikel zu erzwingen. Das erweiterte Plenum der Gruppe schloß sich ihnen am Wochenden in Moskau nicht an, bestätigte jedoch in einer Schlußresolution am Sonntag ihr Recht auf diese Gewissensentscheidung. Außerdem appellierte die Gruppe „an alle Wähler, in Resolutionen, Versammlungen, Meetings, Briefen und Telegrammen zu fordern, daß in die Tagesordnung des Kongresses der Volksdeputierten Anträge zur Änderung und Ergänzung der Verfassung in folgenden Fragen aufgenommen werden: Zum Artikel 6 und zu den Gesetzen 'über das Eigentum‘, 'über Grund und Boden‘, 'Über die lokale Selbstverwaltung‘, 'über die Presse‘.“ Gerade diese entscheidenden Reformgesetze waren in den letzten Wochen im Obersten Sowjet an der Rolle der Partei gescheitert: Die parlamentarischen Komissionen waren nämlich mit ihren fertigen Entwürfen erstmals der innerparteilichen Meinungsbildung zuvorgekommen. Hauptziele der „Überregionalen Gruppe“ sind die Verbesserung der parlamentarischen Spielregeln der Abgeordneten. Anders als in Ungarn oder Polen - klagte man - fehle es in den oberen Parteirängen völlig an Personen, die den Übergang zum Mehrparteiensystem förderten. „Immerhin hat uns Gorbatschow eine einzige Hoffnung gegeben“, scherzte der als Gast geladene populäre Kabarettist Michail Schwanezkij: „Weil er es geschafft hat, daß sozialistische Lager aufzudrieseln, bleibt wenigsten die Hoffnung, daß es unseren Nachbarn besser gehen wird.
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