: Infrastruktur: Die teuren Sünden der Vergangenheit
DDR-Eisenbahnsystem vor dem Zusammenbruch / 20 Jahre warten auf ein Telefon / Fehlendes Geld und Cocomliste behindern Verbesserung ■ Von Steffen Uhlmann
Die offene Grenze mit all ihrer Euphorie, den Wirrnissen und Gefahren für die DDR hat auch das an den Tag gebracht: Wer heutzutage zwischen Ost und West telefonieren will, gerät nicht nur in Gefahr, seine Fingernägel opfern zu müssen, sondern auch sein Nervenkostüm zu strapazieren. Das Telefonnetz steht vor dem Zusammenbruch.
Und nicht nur das: Herbert Keddi, der ehemalige stellvertretende Verkehrsminister der DDR und noch immer oberster Eisenbahner des Landes, würde sogar beten, wenn das etwas nützen würde, um die hoffnungslos überlastete Bahn flott zu bekommen. Fromme Wünsche des Materialisten Keddi angesichts des Gedränges auf den Bahnhöfen, der total überfüllten Züge und der langen Güterwagenschlangen auf den Abstellgleisen. Mit einem Nachlassen der angestauten Reiselust kann er genauo wenig rechnen wie mit Hilfe von „oben“.
Durch die vielen auch an den Wochentagen notwendigen Sonderzüge Richtung Westen bleiben gegenwärtig täglich mindestens 100.000 Tonnen Transportgüter regelrecht auf der Strecke. Die so dringend notwendige Versorgung der Industrie mit Material und vor allem Brennstoffen stockt. Und der von vielen Fachleuten ängstlich erwartete Winter hat schon Einzug gehalten.
Die Folgen für die ohnehin schon angeschlagene Wirtschaft sind nicht absehbar. So drängt Keddi auf eine Verlagerung von Transporten von der Schiene auf die Straße. Das heißt nichts anderes, als daß nun aus der aktuellen Not heraus Schritt für Schritt ein Wandel rückgängig gemacht wird, der über Jahre geradezu kampagnenmäßig durchgedrückt worden ist
-die Transportverlagerung von der Straße auf die energiegünstigere Schiene.
Allerdings fehlen heute die Voraussetzungen für diese Rolle rückwärts. Es gibt weder genügend LKWs noch ausreichend Kraftfahrer dafür. Ganz abgesehen vom katastrophalen Zustand der Straßen.
So hat denn auch Keddis Kollege Dr.Gerhard Jung, verantwortlich für den Straßentransport, nur müde abgewinkt. Mehr als 30.000 Tonnen zusätzlich pro Tag sind nicht drin. Schon jetzt hat der Reiseverkehr auf den Straßen, trotz aller Appelle an die Kraftfahrer, chaotische Zustände produziert. Die Lindwürmer auf den Straßen und Autobahnen reißen nicht mehr ab. In den grenznahen Regionen verursacht der Trabbi- und Wartburg-Treck Staus bis zu 60 Kilometern.
Was die Deutschen aus der DDR mit über jahrzehntelang geübter Geduld noch einigermaßen verkraften können, macht den Westdeutschen zunehmend das Leben sauer. Auch sie bekommen nun viel unmittelbarer den hoffnungslos anmutenden Zustand der DDR-Infrastruktur zu spüren.
Antrag abgelaufen
Dabei sind der aktuelle Telefonnotstand und die Überlastung von Eisenbahn und Straßen nur die Spitze des Eisbergs an Unterlassungssünden aus der Vergangenheit. Die zu kurze Decke bei den Investitionen hat die gesamte Infrastruktur über Jahre hinweg im „Freien“ stehen lassen. Bei der Post haben sich dadurch etwa 1,2 Millionen Telefonanträge angesammelt. Jedes Jahr kommen weitere 100.000 hinzu. Die Wartezeiten betragen mittlerweile bis zu 20 Jahren. Und eine Änderung der Situation ist nicht in Sicht. Da kommt es schon mal vor, daß Antragsteller, die nach zwölf Jahren endlich vom Amt wissen wollten, wann denn das ersehnte Telefon käme, mit einer bemerkenswerten Antwort beschieden werden: Der Antrag sei abgelaufen, man könne ja einen neuen stellen.
Zwar fordert die Post für das nächste Jahr Mittel, die die Installation von etwas mehr als 100.000 Hauptanschlüssen ermöglichen, doch wäre das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Zumal ein Apparat in der Wohnung nicht viel nützt. Das gesamte Netz ist dringend überholungsbedürftig und würde durch die Zuschaltung weiterer Anschlüsse nur noch mehr überlastet werden.
Moderne digitale Vermittlungstechnik und leistungsfähige Glasfaserkabel, die zu einer grundsätzlichen Veränderung der Situation beitragen könnten, sind in der DDR äußerst selten zu haben. Die Kabel werden zwar produziert, haben aber kaum Durchschnittsqualität und werden fast nicht verlegt. Und die DDR-Nachrichtenindustrie hat noch keine leistungsfähige digitale Vermittlungstechnik im Produktionsprogramm. Sie wird sie auch bis auf weiteres nicht fertigen können.
So schauen die Postgewaltigen sehnsüchtig gen Westen, weil sie sich von dort Hilfe erhoffen. Das erste, wenn auch zweifelhafte Angebot, ist schon da. Der Münchner Finanzmanager Albrecht Graf Matuschka offerierte via TV der DDR ein mobiles Telefonsystem. Ganz abgesehen davon, daß niemand weiß, wer dieses System bezahlen soll, würde es auch nicht die Kommunikationsmisere zwischen Ost und West beseitigen. Allenfalls könnte das bei ausgewählten DDR -Betrieben, die feste Geschäftsverbindungen zur Bundesrepublik unterhalten, kurzfristig zu Verbesserungen führen.
Für die DDR insgesamt sind grundsätzlichere Lösungen lebenswichtig. Dabei geht es keineswegs nur darum, das „Privileg Telefon“ allen Bürgern zu verschaffen. Die Effizienz der gesamten Volkswirtschaft hängt wesentlich von modernen Kommunikationssystemen ab. Die Produktivkraft „Information“ zu nutzen, setzt neben Computern und deren Programmen leistungsfähige Datennetze voraus. Und da steckt die DDR, gelinde gesagt, noch in den Kinderschuhen. Solche Netze existieren allenfalls in Ansätzen und verbinden einige Betriebe bzw. wissenschaftliche Einrichtungen miteinander. Von einer direkten Vernetzung kann keine Rede sein. Die DDR hat hier Nachholbedarf und stößt an ihre finanziellen wie technischen Grenzen. Immerhin ist geplant, im nächsten Jahr 4.000 Hochleistungsdatenanschlüsse zu schaffen.
Auch da hoffen die Postler auf Hilfe bundesdeutscher Unternehmen wie Siemens. Das Problem ist nur, daß solche Unternehmen fest an die bestehenden Cocom-Bestimmungen gebunden sind, die den Export von „sensibler“ High-Tech aus den Cocom-Mitgliedsländern in Staaten des Warschauer Paktes verbieten. Siemens darf die notwendige Technik nicht liefern.
Hinzu kommt der erhebliche Finanzbedarf der DDR. Allein für die Rekonstruktion des Fernmeldenetzes müßten in den nächsten Jahren mehr als zehn Milliarden Mark aufgewendet werden. Eine Summe, über die die Post nicht verfügt. Etliche Milliarden mehr müßten auch für die Sanierung des maroden Eisenbahnwesens ausgegeben werden. Es fehlen Lokomotiven, Waggons, moderne Schienenstränge, leistungsfähige Umschlagstechnik und vor allem Arbeitskräfte.
Ende September wurde im Bezirk Cottbus der zweitausendste Eisenbahnkilometer seit 1981 unter elektrischen Fahrdraht genommen. Doch ein Grund zum Feiern war das für die gebeutelte Bahn nicht. Erst Ende nächsten Jahres wird ein Viertel des gesamten Schienennetzes elektrifiziert sein. Und selbst damit werden sich die anstehenden Probleme nicht lösen können. Die Hauptstrecken zwischen Berlin und dem industriellen Süden des Landes sind hoffnungslos überlastet. Die aufgestellten Fahrpläne sind nur noch Makulatur.
Die Bauleute haben neben der Elektrifizierung vor allem mit der Rekonstruktion der bestehenden Schienenstränge alle Hände voll zu tun. Betonschwellen, die erst in jüngster Zeit verlegt wurden, sind auf Hunderten von Kilometern bereits wieder verschlissen, weil der dafür eingesetzte Beton schlicht Ausschuß gewesen ist. Ein Schaden für die Volkswirtschaft in Milliardenhöhe.
Da die Bahn heute mehr als 80 Prozent des gesamten Güterverkehrs der DDR bewältigen muß und täglich über 1,7 Millionen Reisende zu befördern hat, wurde sie gnadenlos auf Verschleiß gefahren. Das rächt sich heute bitter.
Der Autor war bis Januar 1989 Wirtschaftsredakteur der DDR -Zeitscrift 'Neue Berliner Illustrierte‘ und lebt heute in West-Berlin. Er nimmt für die taz in lockerer Folge die Wirtschaftsprobleme der DDR unter die Lupe.
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