: Niederlage für Radikalreformer der UdSSR
■ Volksdeputiertenkongreß lehnt Befassung mit Artikel 6 ab / Gorbatschow rügt Sacharow / Dramatischer Appell des ZK beschreibt „Perestroika auf dem Gipfel der Spannung“
Moskau (afp) - Der sowjetische Volksdeputiertenkongreß hat am ersten Tag seiner zweiten Sitzungsperiode am Dienstag den Forderungen der Radikalreformer um den Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow eine Absage erteilt. Das Parlament lehnte alle Tagesordnungsanträge der Gruppe ab, darunter mit 1.138 zu 839 Stimmen bei 56 Enthaltung den Antrag auf Abschaffung des Artikels 6 der sowjetischen Verfassung, der der Kommunistischen Partei die Führungsrolle im Staat zusichert.
Die Frage des Artikels 6 dominierte den ersten Vormittag der Sitzungsperiode. Eine Vertreterin der estnischen Volksfront, Mariu Lauristin, eröffnete die Diskussion mit einem Antrag auf Aufnahme der Frage des Artikels 6 in die Tagesordnung. Der Dichter Jewtuschenko unterstützte den Antrag und wies auf die Bedeutung dieser Frage für „das Ansehen der Partei und der Perestroika“ hin.
Friedensnobelpreisträger Sacharow übergab Gorbatschow einen Stapel Telegramme mit der Forderung nach Streichung des Artikels 6. Der Staatschef entgegnete, er habe drei Mappen voll Telegramme mit der entgegengesetzten Forderung und warnte Sacharow davor, die öffentliche Meinung zu manipulieren.
Das Plenum des Zentralkomitees der KPdSU hatte am Samstag eine Revision des Artikels 6 abgelehnt. Diese Verfassungsänderung müsse mittelfristig im Rahmen einer Generalüberholung der Konstitution vorgenommen werden, meinte das Zentralkomitee. In der gegenwärtigen Etappe sei für das Funktionieren eines multinationalen Staates wie der Sowjetunion eine starke zentrifugale Kraft notwendig. „Die Perestroika ist am Gipfel der Spannung angekommen“, heißt es in einem dramatischen Appell des Zentralkomitees, der von der Nachrichtenagentur 'Tass‘ veröffentlicht wurde. „Wenn wir durchhalten, werden wir ihn bezwingen. Wenn nicht, rutschen wir zurück und stürzen ab.“ Das Alte gehe in die Brüche, und das Neue setze sich nur schwer durch. Es gebe Versorgungsmängel, die Werktätigen seien zu Recht über Mißwirtschaft und das Nachlassen von Disziplin besorgt, die Gesellschaft werde von Streiks und nationalen Konflikten erschüttert.
Immerhin habe sich das politische Klima im Land verbessert: Es sei offener und vom brennenden Interesse der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten bestimmt. Die Selbständigkeit der Republiken wachse, die KPdSU erneuere sich moralisch und ideologisch.
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