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Nur ein Spruch fehlte: „Geht doch rüber!“

In Ost-Berlin stießen Befürworter und Gegner der „Wiedervereinigung“ aufeinander  ■  Aus Berlin Beate Seel

Eigentlich sollte es eine Demonstration für Umweltschutz und Gesundheit werden. Unter der Hauptlosung „Uns Reich(el)ts“ forderten denn auch ein paar hundert Menschen am Montag nachmittag in Ost-Berlin den Rücktritt des DDR -Umweltministers. Doch die agilste und bei weitem lautstärkste Gruppe, die sich mit einer riesigen Staatsflagge an die Spitze des Zuges setzte, hatte ein anderes Anliegen: „Nie wieder Deutschland“, skandierten die meist jugendlichen Demonstranten immer wieder, untermalt von Trillerpfeifen, und riefen Passanten zu: „Wir wollen kein Viertes Reich“, zweimal auch: „Deutschland verrecke.“ Ein kritischer Ton gegenüber der Staatsführung schlug sich auf einem Plakat nieder, auf dem zu lesen war: „Alle Macht den Räten - Ein Ende der Zentralpolitik“.

Vor dem Gebäude des Ministerrats trennten sich die Wege der TeilnehmerInnen. Während sich die UmweltschützerInnen dort sammelten, zog der Trupp mit der DDR-Fahne weiter in Richtung Alexanderplatz. Dort findet seit einigen Wochen jeden Montag abend eine von der sozialdemokratischen SDP initiierte Kundgebung für die „Wiedervereinigung“ statt. Und schon standen sie sich gegenüber: die jungen Leute in schwarzen Lederjacken oder Jeanswesten, die sich nach dem Namen ihrer Berufsschule „Antifa-Gruppe Rudi Arndt“ nennen, mit ihrem schwarzen Transparent „Nie wieder Deutschland“ und die gesetzten BürgerInnen, meist ab vierzig Jahren aufwärts, mit Plakaten für „Wiedervereinigung“ oder Konföderation beider deutscher Staaten. Die Wogen der Erregung schlugen hoch. Das einzige, was fehlte, war der jenseits der Grenze bekannte Spruch „Geht doch rüber!“.

„Das sind doch alles Stasi-Agenten, die kriegen ja alles und 'ne fette Rente“, empörte sich eine Dame. „Für wieviel Westmark macht ihr das hier?“ gab ein Passant zurück, „das sind doch alles Jugendliche!“ Argumente, die zunächst nicht auf Gehör stießen, soweit man im allgemeinen Geschrei überhaupt von Gehör sprechen konnte.

Aus den Worten der Wiedervereiniger sprach auch tiefe Verbitterung, wenn sie der Gegengruppe schlichtweg das Recht absprachen, für ihr Anliegen auf die Straße zu gehen: „Die sollen doch erst mal arbeiten gehen! Wir haben gearbeitet, 20 Jahre, 30 Jahre, und wo ist unser Lohn? Die schönsten Jahre unseres Lebens haben wir hingegeben, und ihr kommt uns jetzt hier mit Sozialismus! Die Wiedervereinigung kommt von ganz alleine!“ rief eine SDPlerin erbost.

Doch ungeachtet der aufgeheizten Atmosphäre stellten sich die Jugendlichen dem Gespräch, verteidigten nachdrücklich ihre Auffassung von einer sozialistischen Erneuerung in der DDR. Am Rande kam es auch zu ausgesprochen ruhigen Gesprächen, etwa zwischen einer Schülerin und einer SDPlerin über das „abschreckende“ Auftreten der zum Teil vermummten DemonstrantInnen. Für die beiden einsam am Rande stehenden Vopos war die Sache klar, das Weltbild in (alter) Ordnung: „Das scheinen Westberliner zu sein.“

Auch in anderen Städten der DDR wie Dresden und Karl-Marx -Stadt kam es gestern zu Demonstrationen, bei denen Forderungen nach Wiedervereinigung laut wurden. In Leipzig sprach sich ein großer Teil der Menge auf der traditionellen Montagsdemonstration für die „deutsche Einheit“ aus, während ein anderer Teil sich für eine souveräne DDR einsetzte. Immer wieder versuchten die Sprechchöre, sich gegenseitig niederzubuhen. Superintendent Friedrich Magirius äußerte sich von einem Balkon aus besorgt über das aufgeladene Klima. Er schlug vor, am nächsten Montag einen Schweigemarsch zu veranstalten und über Weihnachten und Neujahr ganz auf Demonstrationen zu verzichten.

Daß viele Leipziger mit den jetzigen Kundgebungen nicht zufrieden sind, zeigt die abnehmende Zahl von TeilnehmerInnen. Waren es noch vor Wochen bis zu einer halben Million Menschen, die auf die Straße gingen, so kamen gestern nur noch knapp 100.000.

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