„In Bulgarien herrscht primitiver Kapitalismus“

Shelju Shelew, Vorsitzender der „Union der demokratischen Kräfte“, der Dachorganisation elf unabhängiger Verbände  ■ I N T E R V I E W

Shelju Shelew ist die heute wohl geachtetste Gestalt der Opposition. 1964 wurde er aus der Partei ausgeschlossen, weil er Lenins Materialismusdefinition für logisch widersprüchlich, also falsch, erklärte. Unterstützt durch seine Frau lebte er sieben Jahre lang in der Verbannung als Arbeitsloser auf dem Land. Bekannt wurde er in den siebziger Jahren durch ein Buch über den Faschismus, das in einer Auflage von 10.000 Exemplaren gedruckt, nach kurzer Zeit jedoch von der Polizei wieder eingesammelt wurde. Ab 1974 arbeitete er am Institut für Kultur beim bulgarischen Kulturministerium. Vor sechs Monaten wurde er wegen seiner Mitarbeit im „Klub für Glasnost und Perestroika“ entlassen.

taz: Gibt es innerhalb der Oppositionsbewegung auch politische Differenzen?

Shelju Shelew: Die verschiedenen Organisationen verfolgen unterschiedliche Ziele, hinter denen ein je unterschiedliches Interesse steht. So beschäftigt sich „Ecoglasnost“ mit Umweltproblemen, der „Klub für Glasnost und Demokratie“ konzentriert sich auf das politische und kulturelle Leben, „Podkrepa“ auf die Arbeiter, die „Agrarunion“ auf das Land. Das kann später auch zu politischen Konflikten zwischen verschiedenen Tendenzen führen. Gegenwärtig aber ist es unsere Aufgabe, unser Land vom totalitären System zu lösen und in ein Mehrparteiensystem zu verwandeln.

Wie ist die neue KP-Führung einzuschätzen?

Es gibt auch in der BKP Sympathien für uns. Viele bei uns sind Parteimitglieder. Aber die KP muß sich erst einmal in eine richtige Partei verwandeln. Gegenwärtig ist sie nur ein bürokratischer Apparat, der zuviel mit dem Militär und der Polizei gemeinsam hat. Mladenow wird radikale Reformen versuchen, wie die Aufhebung des Nomenklatursystems, die viele innerhalb und außerhalb der Partei fordern. Aber noch sind der Parteiapparat und die Polizei sehr stark. Mladenow muß das mitbedenken; er braucht Zeit. Die stärkste Persönlichkeit in der neuen Führung ist übrigens Andrej Lukanow. Mehr als Mladenow ist er jetzt der ideologische Kopf.

Könnte es in nächster Zeit zu einem Generalstreik kommen?

Nein. Für den hat die Opposition noch keine Infrastruktur. Sie könnte ihn nicht organisieren und unterstützen. Vielleicht sieht das in zehn oder zwanzig Wochen schon anders aus. Auch die Partei und die Polizei sind noch viel zu stark für sowas.

Wären rasche Wahlen da nicht günstig?

Wir wollen freie Wahlen, wir wollen aber auch, daß sie später stattfinden. Wenn es jetzt Wahlen gäbe, würde die BKP sie gewinnen. Die Opposition ist noch nicht ausreichend organisiert, und sie hat noch nicht genug bekannte politische Führer.

Wären Sie einer dieser Führer?

Das hängt nicht von mir ab. Ich bin Wissenschaftler und ziehe meinen Beruf vor. Aber in der jetzigen Situation ist es nötig, für unser Land und unser gesamtes gesellschaftliches Leben Politik zu machen.

Wie beurteilen Sie die politischen Wandlungsprozesse in den anderen Ländern Osteuropas?

Die Sowjetunion hat bisher die führende Rolle der Partei nicht aus ihrer Verfassung gestrichen. Sie steht uns ferner als andere osteuropäische Länder. Die Entwicklung in Ungarn liegt uns am nächsten, mehr vielleicht als die in Polen. Die BKP könnte sich in eine Art sozialdemokratische Partei verwandeln. Anders hat sie auch keine Zukunft.

Bulgarien soll also nicht sozialistisch bleiben?

Gegenwärtig ist unsere Gesellschaft nicht sozialistisch, meiner Meinung nach. Sie ist eine Art primitiver, zentralistischer, polizeistaatlicher Kapitalismus. Der Umbau wäre nichts anderes als die Verwandlung in einen demokratischen pluralistischen Kapitalismus mit drei verschiedenen gleichberechtigten Eigentumsformen staatlichen, genossenschaftlichen und privaten.

Nicht nur die Partei, auch Vertreter der Opposition wollen jetzt eine wirklich sozialistische Gesellschaft aufbauen.

Das sind ideologische Illusionen. Der Sozialismus ist in unserer Zeit prinzipiell unmöglich. Es gibt keinen produktiveren Weg als den kapitalistischen.

Die kapitalistischen Gesellschaften unterscheiden sich aber erheblich. Einige reiche, wie die USA oder England, sind mitverbreitetem Massenelend konfrontiert.

Ich würde als Modell Westdeutschland, die Schweiz oder Schweden vorziehen. Das sind Länder, die wirtschaftlich effektiv arbeiten und zugleich eine Sozialpolitik auf sehr hohem Niveau betreiben.

Interview: Erhard Stölting