: „Die Polizei hat Anspruch darauf,.kontrolliert zu werden“
■ Offener Brief der „Arbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten“ an den niedersächsischen Innenminister Stock / Anlaß ist der Göttinger Polizeieinsatz, bei dem eine Studentin in den Tod getrieben wurde / Das Vertrauen vieler Bürger in die Bekämpfung des Rechtsextremismus sei verlorengegangen / Eine Dokumentation
Die Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten e.V. hat mit Betroffenheit die Nachricht vom Tod der 24jährigen Studentin Cornelia Wissmann in Göttingen aufgenommen. Gleichzeitig sind wir bestürzt über die gewalttätigen Ausschreitungen, die sich im Zusammenhang mit dem Demonstrationsumzug in Göttingen am 25.11.1989 entwickelt haben. (...) Aber die Verurteilung von Gewalt entbindet uns nicht der Verantwortung, darüber nachzudenken, welches die Ursachen für Gewalt waren und sind.
Aufgrund der Vorgänge, die nach all dem, was in den letzten Wochen und Monaten in Niedersachsen (allgemein) und speziell in Göttingen zu diesem Fall bisher bekannt geworden ist, müssen wir gerade als Polizeibeamte feststellen, daß Cornelia Wissmann Opfer einer Eskalation der Gewalt, ausgehend von neofaschistischen Gruppen und Skinheads und einer völlig verfehlten Polizeistrategie und -taktik geworden ist. Wir stellen fest, daß eine neo-konservative Politik und ihre Presse dazu beiträgt, daß die Entstehung und das Wirken solcher Gruppierungen verharmlost bzw. unterbewertet werden. Der Verfassungsschutzbericht 1988 belegt, wie wenig Aufmerksamkeit dem Rechtsextremismus, trotz eines starken Anstiegs, gewidmet wird.
In Niedersachsen haben die brutalen Übergriffe und Provokationen von neofaschistisch beeinflußten Skinheads nicht nur in den Städten, sondern auch zunehmend im ländlischen Bereich ein bisher von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenes unerträgliches Ausmaß angenommen. In allen Bereichen wird ein starker Zulauf zu den Rechtsextremisten festgestellt. Ziele der Angriffe dieser Gruppen sind überwiegend unsere ausländischen Mitbürger/innen, Besucher/innen von Jugendzentren, Antifaschisten/innen und ihre Veranstaltungen sowie Schulfeste. So erklärt hierzu der Sprecher der Göttinger Staatsanwaltschaft, Hans Heimgärtner, daß Skins provozieren, wo sie können. Seit Jahren sind Auseinandersetzungen zwischen Skins und Autonomen in vielen Großstädten in Niedersachsen an den Wochenenden schon fast die Regel. Stellenweise konnten Straßenschlachten zwischen den Verursachern und Betroffenen nur durch Großaufgebote von Polizeibeamten verhindert werden. Dabei ist festzustellen, daß eher die Betroffenen von Auswirkungen neofaschistischer Aktionen das Ziel von staatlichen Maßnahmen werden. Wir glauben, daß dadurch das Vertrauen vieler Bürger in die Bekämpfung von Rechtsextremismus durch staatliche Stellen verlorengegangen ist. (...)
Die Betroffenen glauben sich schutzlos und wehren sich. In diesem Zusammenhang geben wir dem Bundesinnenminister recht, der erkannt hat, daß mit dem Erstarken des Rechtsradikalismus eine neue Phase militanter Auseinandersetzungen beginnt. Wir vermissen hier jedoch eine politische Verantwortung für diese Entwicklung.
Bei der Analyse der Göttinger Ereignisse vom 17.11. und 25.11. 1989 erscheint uns das polizeiliche Einschreiten von Widersprüchen und Unstimmigkeiten behaftet zu sein. Dieses spiegelt sich so auch in der Öffentlichkeit wider. Gerade in dieser Situation, in der eine restlose und schnelle Aufklärung die Voraussetzung für eine Entspannung in Göttingen gewesen wäre, häuften sich durch die Polizeiführung die widersprüchlichen Aussagen zu den Ereignissen, die zum Tod der Studentin Cornelia Wissmann geführt haben.
Das niedersächsische Innenministerium zeigte sogar gegenüber den parlamentarischen Vertretern/innen in der Beantwortung entscheidender Fragen Zurückhaltung. So erscheint es uns unverständlich, wenn sich Ihr Sprecher „unwillig“ über das Eingeständnis von Fehlern durch die Göttinger Polizeiführung äußert. (...)
Gerade die Nachvollziehbarkeit von polizeilichem Handeln ist für die Bürger und Bürgerinnen dieses Staates ein wesentliches Element einer demokratischen Verwaltung. Wenn dieses nicht vorhanden ist, besteht die Gefahr und der Verdacht, daß sich Politiker „ihrer“ Polizei bedienen.
Folgende rechtliche und strategische Fragen zum polizeilichen Handeln in Göttingen, am 17. und 25.11. 1989, sind bis heute noch nicht eindeutig geklärt:
-Handelt es sich beim Einschreiten gegen die Gruppe von Autonomen am 17.11., unter der sich auch die Studentin Cornelia Wissmann befand, um strafprozessuale oder gefahrenabwehrende Maßnahmen? Aufgrund des aufgezeichneten Funkverkehrs zwischen den eingesetzten Fahrzeugen besteht der Verdacht, daß es keine Einigkeit in der rechtlichen Bewertung für ein Anhalten der flüchtenden Autonomengruppe gab.
-Wie sah die Bewertung der Verhältnismäßigkeit im konkreten Fall aus?
-Aus welchen Gründen wurde zu einem Zeitpunkt über ein Anhalten dieser Gruppe entschieden, wo zwar Fluchtrichtungen nach den Seiten unterbunden werden konnten, eine Flucht über die vielbefahrene und für den Personenverkehr gefährliche Weender Landstraße jedoch möglich war?
Standen die eingesetzten Beamten nicht auch in einer Verantwortung gegenüber ihrem polizeilichen Gegenüber hätten sie nicht abwägen müssen, ob es sich hier um ein geeignetes Mittel, um eine geeignete Maßnahme handelt, dieses auch deshalb, weil es schon während der „Jagd“ dieser Gruppe durch die Göttinger Innenstadt (...) bereits zu gefährlichen Situationen zwischen den Flüchtenden und dem Kfz-Verkehr gekommen sein soll? Stand die Polizei nicht auch in einer Verantwortung gegenüber der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, als sie sich zu ihrer Maßnahme des Anhaltens entschloß?
-Die Maßnahmen der Polizei hätten eindeutig und schlüssig sein müssen. Handelt es sich dann nicht um einen Widerspruch, wenn Polizisten mit Schlagstöcken in der Hand (ohne hierbei den Inhalt des Funkverkehrs zu bewerten) die Personalien von Personen feststellen wollen?
-Entspricht es einer deeskalierenden Strategie einer Polizeiführung, wenn die Mahnwache (19.11.89) am Unglücksort mit Schlagstöcken aufgelöst wird? Hat sich die Art und Weise der Handhabung des staatlichen Gewaltmonopols zur Gewährleistung der Inneren Sicherheit mit ihren Maßnahmen nicht der Sicherung bzw. Wiederherstellung des Inneren Friedens unterzuordnen? Eine gebotene Untätigkeit ist hier nicht mit einem rechtsfreien Raum oder einer Kapitulation des Rechtsstaates zu vergleichen.
-Trotz eines angeblich deeskalierenden Einsatzkonzeptes der Polizeiführung zum Demonstrationsumzugs am 25.11. ließ die Strategie der Polizei auf eine Eskalation des Demonstrationsverlaufs schließen. Warum wurden Einsatzkräfte der Polizei so an die Abschlußkundgebung am Rathausplatz herangeführt, daß die Demonstrationsteilnehmer eingekesselt wurden und die Kundgebung zum „Juzi“ verlegt wurde? Warum wurde gerade ein Fluchtweg für Gewaltbereite in die Innenstadt von Göttingen (Fußgängerzone) offengehalten, wo doch gerade dort mit den größten Schäden zu rechnen gewesen wäre (...)? War es wirklich ein „grausames Mißverständnis“, oder zeigt es eher eine fehlende Professionalität der Einsatzführung, als die Bereitschaftspolizei über einen Umweg (...) einer Streifenwagenbesatzung zur Hilfe eilen sollte und so schwere Auseinandersetzungen auslöste? Warum kehrte sie nach diesem „Mißverständnis“ wieder auf dem gleichen Weg zurück?
Nach dem Inhalt eines Artikels der 'Frankfurter Rundschau‘ vom 1.12. 1989 (Fragen von Abgeordneten) bestand der Verdacht, daß sich Politiker der CDU während des Polizeieinsatzes am 25.11. in der Einsatzzentrale aufgehalten haben. Diese wurden bis heute nicht beantwortet. Hier wurde bekannt, daß es sich bei den Politiker/innen um die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (und) dem niedersächsischen Generalsekretär der CDU, Hartwig Fischer (...) gehandelt haben soll. (...)
Eine Beobachtung und Kontrolle polizeilicher Arbeit durch parlamentarische Vertreter/innen finden wir begrüßenswert, aber - hier entsteht bei dieser Konstellation der Eindruck, daß die Anwesenheit dieser politischen Vertreter/innen über den gedachten Rahmen hinausging.
Wir stellen fest, daß gesellschaftspolitische Untätigkeit und fehlende Verantwortung für die rechtsextremistische Entwicklung die Auseinandersetzungen mit diesen Konflikten auf die Straße und somit auf den Rücken der Polizei verlagert haben. Die politisch Verantwortlichen entledigen sich ihrer Verantwortung bzw. machen sich sogar die Ereignisse dieser Konflikte zunutze. Dabei ist zu beobachten, daß die Opfer der rechtsextremistischen Provokationen und Überfalle in vielen Fällen zu den Tätern gemacht werden werden.
Herr Innenminister, wir haben in der Vergangenheit immer wieder festgestellt, daß es auch innerhalb der Polizei Feindbilder gibt und wie wichtig es ist, gegen sie entschieden vorzugehen. In diesen Feindbildern macht sich ein mangelndes Differenzierungsvermögen bemerkbar, es entstehen Vorurteile, und diese vereinfachen dabei das polizeiliche Handeln. Gegenseitiges Bestätigen in dieser Haltung fördert ein sogenanntes „U-Boot-Denken“, das Kritik von außen nicht mehr zuläßt. Ausfluß dieser Entwicklung ist ein falsches Demokratieverständnis. (...)
Durch die Aufdeckung des polizeilichen Funkverkehrs in Göttingen wurde dieses Feindbilddenken nun wieder drastisch der Öffentlichkeit vor Augen geführt. Auch wenn es vielfältige Erklärungsversuche zu dem Begriff „Plattmachen“ seitens der Polizeiführung gibt, so muß man kein Sprachwissenschaftler sein, um die Begrifflichkeit des Wortes und Denkstrukturen des Verwenders in eine Verbindung bringen zu können. Es handelt sich bei diesem Wort um keinen Rechtsbegriff; es läßt offen, wie es bei einer Anweisung eines Vorgesetzten, wie hier geschehen, anzuwenden ist.
Aber es ist nicht ein Einzelfall, der in Göttingen bekanntgeworden ist: Auch der Ausspruch des Polizeibeamten an Umstehende, „Sie können sich gleich danebenlegen“, dokumentiert, wie wenig Betroffenheit im Angesicht der toten Cornelia Wissmann, sondern wieviel an Feindbilddenken vorhanden ist - und so könnte man, bezogen auf Göttinger Polizeigeschichte, die Aufzählung fortsetzen. Wie gefährlich sind gerade solche Denkstrukturen bei Polizeiverbänden bzw. spezialisierten Gruppen, wie das ZSK bzw. SEK, wie groß ist die Gefahr, daß sich aus solchem Denken eine eigene Dynamik entwickelt. Hier könnte auch eine Erklärung für die Art des Einsatzes vom 17.11. in Göttingen zu finden sein.
Wie unverantwortlich ist es dann, wenn von politischer Seite, wie auch am Beispiel Göttingen geschehen, kurz danach Feindbilder manifestiert werden, indem der CDU -Landesvorsitzende Wilfried Hasselmann auf einem Kongreß von Polizeibeamten, Gewalt nur im Zusammenhang mit Autonomen thematisisert und auch fordert, das Jugendzentrum „Juzi“ zu schließen. Der langanhaltende Beitrag ist symptomatisch für den Umgang mit gesellschaftlichen Problemen. Hier entsteht der Eindruck, daß von den großen Versäumnissen der Politik abgelenkt werden soll.
Um diese Entwicklung aufzuhalten, appellieren wir an Ihre politische Verantwortung und Ihren Einfluß. Tragen Sie zu einer Demokratisierung der Polizei bei.
Die Weichen für ein offenes Rollenverständnis der Polizei werden in der Aus- und Fortbildung gestellt. Die Polizei muß aus ihrem Ghetto herauskommen. Dies gelingt jedoch nicht, wenn die Polizei ihren Nachwuchs weitgehend selbst ausbildet. Es gilt das Konzept der polizeiinternen Ausbildung zu überdenken, hier insbesondere die Ausbildung im mittleren Polizeidienst. Die schon vorhandenen positiven Ansätze der Fachhochschulen könnten hier übertragen und ausgebaut werden.
Weiterhin gilt es, die Maßstäbe für polizeiliche Lagebeurteilungen, die insbesondere in den bundeseinheitlichen Polizeidienstvorschriften für Führung und Einsatz niedergelegt sind, zu überarbeiten und im Sprachgebrauch zu entmilitarisieren.
Gerade die Göttinger Ereignisse zeigen, wie wichtig unsere Forderung nach der Einrichtung von unabhängigen Polizeikontrollbehörden ist. Effektivität und Wirksamkeit würde bei diesen Kontrollausschüssen durch ein umfassendes Akteneinsichtsrecht und Zusammenarbeit mit Reformkommissionen erreicht werden. Die unabhängigen Kontrollbehörden sollten nur dem Parlament verantwortlich sein. (...)
Bis heute ist bewiesen worden, daß durch die institutionalisierten Kontrollinstanzen (Gerichte, Parlamente, Beamten- und Disziplinarrecht und auch die Presse) eine Transparenz polizeilichen Handelns nicht gewährleistet worden ist bzw., daß sie versagt haben.
Auch hier möchten wir noch einmal auf unsere Forderung zur Einführung von Namensschildern hinweisen. Die Notwendigkeit dieser Schilder, gerade bei geschlossenen Polizeieinheiten, gebietet schon die verfassungsrechtliche Rechtsweggarantie gemäß Art. 19.4 GG. Der Bürger steht dann keiner anonymisierten Polizeitruppe gegenüber. Dieses hätte auch bei den einzelnen Beamten ein positives Verhalten zur Folge.
Die Polizei hat einen Anspruch darauf, kontrolliert zu werden. Nur wenn polizeiliches Handeln vom Bürger getragen wird und er in seiner Polizei nicht den Erfüllungsgehilfen von politisch nicht getragenen Entscheidungen sieht, wird der Polizeibeamte das Stigma des „Bullen“ verlieren.
Wir schließen uns den Forderungen der Solidaritätsbotschaft, die von 300 Studenten der Universität Jena (DDR) unterzeichnet wurde, an. Sie fordern eine restlose öffentliche Aufklärung der Geschehnisse, die zum Tod von Cornelia Wissmann führten; die Bestrafung der Verantwortlichen; die Absetzung des umstrittenen Polizeichefs, Herrn Will; die Entfernung aller Beamten aus dem Polizeidienst, die Mitglieder der rechtsextremen „Republikaner“ sind, sowie die Auflösung bzw. eine personelle Veränderung des ZSK in Göttingen. (...)
Der Tod von Cornelia Wissmann muß Anlaß sein, die Diskussion über die wirksamste Bekämpfung von Neofaschismus und Rechtsradikalismus zu verstärken und zu erproben. Als Bürger in Polizeiuniform wollen wir das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat verbessern, durch Dialog den Spannungsabbau und die friedliche Lösung von Konflikten suchen.
Winfried Holzinger, 6.12.1989
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