: Zehntausende nahmen Abschied von Sacharow
■ Entlang des Zuges wehten mit Trauerflor versehene Fahnen, darunter die Trikolore des vorrevolutionären Rußland / Einzige politische Forderung auf Transparenten: Abschaffung der Führungsrolle der KP / Auch Gorbatschow kondolierte
Moskau (dpa/afp) - Mit einer bewegenden und großen Trauerfeier nahmen die Sowjetbürger am Montag in Moskau Abschied von Andrej Sacharow. Rund 10.000 Menschen folgten hinter einem übergroßen Porträt dem Sarg des am letzten Donnerstag im Alter von 68 Jahren gestorbenen Friedensnobelpreisträgers. Vor der zivilen Trauerfeier auf dem Luschniki-Sportgelände hatte Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow Sacharow die letzte Ehre erwiesen und der Witwe, Jelena Bonner, persönlich kondoliert.
„Andrej Sacharow verdiente den Friedensnobelpreis. Er hinterläßt einen leeren Platz, aber die Perestroika geht weiter“, sagte Gorbatschow vor Journalisten. Er und Sacharow seien sich immer mit großem perönlichen Respekt begegnet, sagte der Staats- und Parteichef, der im Volksdeputiertenkongreß am Tag vor Sacharows Tod einen heftigen Zusammenstoß mit dem Abgeordneten gehabt hatte. Sacharow hatte immer wieder gemahnt, die Perestroika müsse schneller vorangehen, um zum Erfolg zu kommen.
Der Trauerzug folgte einem nach hinten offenen Bus mit dem Sarg. Er ging quer durch die sowjetische Hauptstadt. Der Lenin-Prospekt, eine der Hauptverkehrsadern Moskaus, war gesperrt. Zahlreiche Menschen hatten sich Fotos von Sacharow an die Mantelaufschläge gesteckt, viele weinten.
Überall wehten mit Trauerflor versehene Fahnen: Die Trikolore des vorrevolutionären Rußlands sowie die alten Nationalflaggen der baltischen Staaten, Armeniens und der Ukraine. Als einzige politische Forderung stand auf Transparenten der Wunsch nach Abschaffung des Artikels sechs der Sowjetverfassung, in dem die Führungsrolle der KP festgeschrieben ist. Kurz vor seinem Tod hatte Sacharow zu einem landesweiten Warnstreik aufgerufen, damit der Volkskongreß über die Streichung dieses Artikels debattiere.
In Begleitung anderer Parteiführer und von Mitgliedern der Regierung hatte Gorbatschow am frühen Morgen die Akademie der Wissenschaften aufgesucht, wo der Leichnam aufgebahrt war. Dort sprach er Frau Bonner sein Beileid aus. Gorbatschow hatte bereits vergangenen Freitag die Teilnahme an der Zeremonie angekündigt. Aus Sicherheitsgründen wurde jedoch geheimgehalten, wo er Sacharow die letzte Ehre erweisen wollte.
In Anwesenheit von rund 40.000 Menschen, darunter zahlreiche Vertreter des öffentlichen Lebens und oppositioneller Gruppen, fand am Nachmittag auf dem Luschniki-Gelände die zivile Trauerfeier statt. Rund 2.000 Armeesoldaten und Milizionäre regelten den Zugang. In Seitenstraßen standen weitere Hundertschaften von Armee und Miliz in Bereitschaft.
Der Reformer Juri Afanassjew und der Dichter Jewgeni Jewtuschenko würdigten den Verstorbenen. Der Volksdeputierte Dimitri Lichatschow bezeichnete Sacharow als „Bürger nicht nur unseres Landes, sondern der ganzen Welt“. Der polnische Gewerkschaftsführer Lech Walesa ließ sich durch den Sejm -Abgeordneten Zbigniew Romaszowski entschuldigen. Sein Flugzeug habe nicht in Moskau landen können.
Frau Bonner hatte am Vorabend die Mitbürger im Fernsehen gebeten, nicht zur eigentlichen Beisetzung auf dem Wostrijakowskoje-Friedhof im Südwesten Moskaus zu kommen. Sie bat um Verständnis, daß die Familie bei dieser Gelegenheit möglichst unter sich bleiben wolle.
Auch in anderen sowjetischen Städten gab es Trauerkundgebungen für Sacharow. In der Kathedrale der litauischen Hauptstadt Wilna wurde eine Totenmesse für den Bürgerrechtler gelesen. In Leningrad, Minsk und in zahlreichen Städten der Ukraine fanden Großkundgebungen mit Zehntausenden von Menschen zum Gedenken an den Verstorbenen statt. In einigen Städten seien sie von der Polizei aufgelöst worden, hieß es in Berichten von Augenzeugen. In Kiew hatten bereits am Sonntag rund 30.000 Menschen auf einer Kundgebung gefordert, den 18.Dezember zum Trauertag zu erklären.
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