: Leipzigs Demo macht mal Pause
150.000 TeilnehmerInnen auf der Montagskundgebung: Die befürchtete Konfrontation blieb aus / Gedenken an die Opfer des Stalinismus / Deutsch-nationale Provokateure blieben isoliert / NPD-Stuttgart verteilte Flugblätter ■ Aus Leipzig A. Smoltczyk
„Na dann noch schöne Feiertage“, verabschiedet sich der Vopo -Offizier am Stasi-Gebäude, nachdem er mit „dem Volk“ debattiert hatte - einem Volk, das plötzlich härteres Eingreifen der Polizei fordert. Aber: „Was sollen wir tun gegen die REPs? Die Mehrheit des Volkes würde nicht verstehen, wenn wir eingriffen. Nee, wir haben keinen Polizeistaat mehr. Das können wir nur gemeinsam lösen“, meint der Vopo und steigt ins Auto.
Montagsdemo in Leipzig, die letzte in diesem Jahr. Wieder sind 150.000 auf dem Ring, sind die Medien gekommen, um einer Revolution den Puls zu fühlen, die hier ihren Ausgang nahm. Diagnose: kein Fieber mehr - trotz eines kleinen deutschtümelnden Tumors -, aber immer noch erhöhter Herzschlag.
Superintendent Friedrich Magirius und Orchesterchef Kurt Masur hatten zusammen mit dem Bürgerkomitee zu einem Schweigemarsch ohne Transparente aufgerufen, um den deutsch -nationalen Tönen, die in den letzten Wochen immer lauter geworden waren, den Resonanzboden zu nehmen. Eine Viertelstunde lang sollte mit Kerzen der Opfer des Stalinismus gedacht werden - und der Ereignisse des Herbstes 1989. Dagegen konnte keiner sein. Also tragen Frau und Mann ihre Lichter in Lampions und Joghurtbechern noch einmal am Kaufhaus „Konsument“ vorbei, wo am 9. Oktober die Kampfgruppen standen, vorbei an der Nikolaikirche, wo alles anfing, bis zum ehemaligen Stasi-Haus. Zigtausende Kerzen flackern und beleuchten ein Leipzig, das ein anderes geworden ist. Nur die Demonstranten sind die gleichen allem Schwarz-Rot-Gold zum Trotz. Die überwiegende Mehrheit hält sich an die Aufforderung von Magirius und Masur, wohl auch, um den Medien zu zeigen, wer „das Volk“ in Leipzig ist, wohl auch, weil viele Angst vor der eigenen Courage bekommen haben. Gefragt, weshalb er denn die Bundesflagge mit sich herumschleppe, sagt ein Mann: „Das ist ein Bekenntnis zur deutschen Nation, natürlich nicht sofort, das muß langsam wachsen. Nee, ich war jedes Mal dabei am Montag, ich bin kein Rechter. Es muß nur Schluß sein mit dem Stalinismus.“ Die deutsche Fahne wird von manchem als Symbol der Bürgerrechte gesehen, und „Einigkeit“ meint weniger die Vereinigung als die Übernahme von Rechtsstaatlichkeit nach Bundesmodell. „Gegen Rechtsradikalismus, gegen Linksradikalismus, für ein Deutschland“, stand auf einem Transparent als Losung für eine Revolution, die sich noch einmal als sehr maßvolle zu erkennen gibt.
Nur einmal dröhnte während der Gedenkviertelstunde das „Deutschland einig Vaterland“ auf. „Hier kann man schreien, gibt kein Tabu mehr“, kräht einer der Lautesten, der schon schwer getankt hat. Es sind oft unscheinbare Männer um die fünfzig, die plötzlich und unerwartet laut den Mund zu einem „Deutschland“ aufmachen - nachdem sie jahrzehntelang geschwiegen und malocht haben. Eine Gruppe von fünfzehn kahlnackigen Leipziger Jungfaschos trägt Aufkleber der Westberliner Jungen Nationaldemokraten. Neofaschisten der NPD-Stuttgart hatten Flugblätter verteilt, in denen zur Volksabstimmung über eine „Neuvereinigung“ aufgerufen wurde. Doch die Provokateure bleiben isoliert (und von den Kameras hofiert). Die Ringmarschierer wissen sehr wohl zu unterscheiden zwischen großdeutschem Wahn und deutsch -deutscher Annäherung, „damit es uns auch mal ein klein bißchen besser geht“, wie ein Älterer meint. Die vorhergesagte Umwandlung der Montagsdemo zu einer Konfrontation zwischen Gegnern und Befürwortern der Einheit aber ist ausgeblieben. „Alle wollen das gleiche (die staatliche Einheit), einige etwas früher, andere etwas später“, meinte auch Kurt Masur.
Nachdem die meisten schon wieder friedlich in ihre Straßenbahnen gestiegen sind - „bis zum 8. Januar ruhen wir uns jetzt erst mal aus“ -, zieht noch ein anderer Zug durch die Gassen um „Auerbachs Keller“. Mit Trillerpfeifen und Tröten werden SED-Flaggen herumgetragen, und man fordert „Freiheit für Grönland, weg mit dem Packeis“. Wo Surrealismus als solcher gezeigt werden kann, sind normale Verhältnisse nicht weit.
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