: Beruf verfehlt-betr.: Was nun, Herr Gysi?", ZDF-Sendung am 9.12.89
betr.: „Was nun, Herr Gysi?“, ZDF-Sendung am 9.12.89
Zu den peinlichen Auftritten westlicher Politiker und Medienvertreter in der DDR gehört ohne Frage das Interview von Klaus Bresser und Klaus-Peter Siegloch mit dem gerade erst gewählten neuen Vorsitzenden der Partei, die sich noch Sozialistische Einheitspartei Deutschlands nennt. Wer sich nicht entblödet, dem frisch gewählten Gregor Gysi, der keineswegs der stalinistischen Betonkopfriege der vormaligen DDR-Führung angehörte noch angehört, sich aber gleichwohl als Kommunist versteht und sich zu sozialistischen bis sozialdemokratischen Vorstellungen bekennt, wer sich nicht entblödet, einem solchen Mann wie Herrn Gysi in der Art eines Gesinnungsprüfungsausschusses Fragen zu stellen wie: „Was bewundern Sie an Helmut Kohl?“ oder „Was können Sie von der Bundesrepublik lernen?“, der versucht nichts anderes, als einen Vertreter der weichgewordenen, sich erneuernden DDR in die Knie zu zwingen. (...)
Auch uns bewegen die Vorgänge in dem anderen deutschen Staat. Auch wir hegen große Sympathie für die Menschen in Leipzig und anderswo, die ihren Willen zu Reformen auf so eindrucksvolle Weise zum Ausdruck bringen. Und wir sehen auch diejenigen, die Christa Wolf als „Wendehälse“ bezeichnet hat. Wir sind aber empört darüber, das in unseren Medien der Bonner Wiedervereinigungseuphorie in dieser Weise zugearbeitet wird.
Leute wie Gregor Gysi sollten die Chance erhalten, ihre Ideen von einem gerechteren, humanen Staat zu entwicklen, ohne daß ihnen das Abschwören von sozialistischen Traditionen, denen sich übrigens auch Ernst Bloch, Kurt Tucholsky, Egon Erwin Kisch und viele andere verpflichtet fühlten, zur Vorbedingung gemacht wird. Herr Gysi genießt nach unserer Ansicht bis weit in die neuen Bewegungen der DDR hinein in einem ganz anderen Maße Vertrauen und hat eine sehr viel höhere Glaubwürdigkeit, als dies bei seinen Vorgängern der Fall war. Zudem hat er sich auch zu Zeiten des Unrechtsregimes in der DDR als Rechtsanwalt für diejenigen eingesetzt, die heute das Rückgrat der DDR -Opposition bilden.
Ihm diese Chance zu verwehren, ihn zum Kotau vor der Bundesrepublik und ihrem keineswegs sonderlich angesehenen noch glaubwürdigen Kanzler zwingen zu wollen, ist schlicht anmaßend. (...)
Journalisten wie Herr Siegloch und Herr Bresser (von dem man auch schon besseres gehört hat) leisten mit ihrer Art der Befragung einer Politik Vorschub, die Willy Brandt unter tosendem Beifall der DDR-BürgerInnen in Rostock scharf kritisiert hat. Wer meint, Wahlen auf dem Rücken der BürgerInnen der DDR gewinnen zu wollen, hat es nicht verdient, anders behandelt zu werden, als es Helmut Kohl in Berlin vor dem Schöneberger Rathaus zu spüren bekam.
Wer glaubt, sich als Journalist mit einem derartig blödsinnigen und realitätsfremden Frage- und Antwortspiel in irgendeiner Weise um Pressefreiheit und Informationspflicht verdient gemacht zu haben, der hat seinen Beruf verfehlt.
Thomas Braun, Doris Heberle, Settmarshausen
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