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Das ist ja kein Leben

■ Ein Gespräch mit dem Neurochirurgen Dr. Maximilian Mehdorn (Universitätsklinik Essen) über die Frage, ob der Kopf nach der Guillotinierung noch denken kann: Eine endgültige Antwort läßt sich immer noch nicht geben

taz: Zur Zeit der Einführung der Guillotine war die größte medizinische Streitfrage, ob der Kopf nach der Sektion vom Körper noch denkt. Guillotin behauptete, daß sofort nach dem Schnitt Black-out war, andere Ärzte bestritten das. Was sagt dazu die moderne Medizin?

Dr. Maximilian Mehdorn: Vom unfallmedizinischen Standpunkt her geschieht ja bei der Guillotinierung eine vollkommene Durchtrennung der vier Halsschlagadern in Höhe der Halswirbelsäule und des Rückenmarks und der sonstigen Nervenverbindungen zum Körper. Das Gehirn hat aber sonst noch über einige Minuten über den Guillotinierungszeitpunkt hinaus die Möglichkeiten, seinen Stoffwechsel aufrechtzuerhalten und die vorhandenen Reserven aufzubrauchen. Die Möglichkeit, daß der Kopf noch „lebt“ wenn man so will -, besteht durchaus, denn er hat ja seinen eigenen Stoffwechsel, auch wenn er aus der Zirkulation ausgeschaltet ist.

In welcher Reihenfolge erlöschen die Funktionen?

Zuerst die höheren Funktionen, also zuerst das Denken. Die tieferen Funktionen, sprich: die Schmerzperzeption, wären sicherlich noch da, auch der Atemantrieb, aber das hätte ja keine Funktion mehr, weil die entsprechenden Organe gar nicht mehr da wären.

Der Schmerz bliebe bis zuletzt?

Ja. Es ist allerdings schwierig zu entscheiden, wieweit das Hirn tatsächlich nicht durch die Wucht des Fallbeils in einen Schockzustand versetzt wird und deswegen nicht mehr funktioniert im Sinne eines Schädel-Hirn-Traumas. Genaue Aussagen zu machen wäre hier problematisch. Das hängt davon ab, wo genau auf der Halswirbelsäule das Fallbeil auftrifft. Es gibt sicherlich auch einige Guillotinierungen, bei denen der Kopf nicht richtig fixiert war und wo auch der Kopf selbst vom Fallbeil getroffen wurde.

Wenn es aber ideal liefe und das Fallbeil genau zwischen zwei Wirbeln aufträfe - ich nehme an, daß das den geringsten Schmerz verursachen würde -: Wäre es dann denkbar, daß das Bewußtsein erhalten bleibt?

Theoretisch ist das durchaus denkbar.

Eine endgültige Antwort läßt sich auch heute noch nicht geben?

Nein. Es gibt bekanntlich auch bei den Tieren den umgekehrten Zustand - bei Hühnern zum Beispiel -, daß sie noch einige Schritte laufen, nachdem der Kopf vom Rumpf abgetrennt worden ist. Man berichtet ja auch, daß der Störtebeker noch einige Schritte tun konnte, nachdem er enthauptet worden war.

Wäre es denn experimentell feststellbar, ob noch so etwas wie Hirntätigkeit und Bewußtsein vorhanden ist nach der Durchtrennung?

Man kann noch die Funktionen testen, es gibt die Möglichkeit elektrophysiologischer Untersuchungen. Man kann die Hirnströme ableiten, man kann auch gezieltere Untersuchungen mittels der evozierten Potentiale durchführen. Das sind eigentlich die einzigen Untersuchungsmethoden, die da etwas weiterhelfen könnten. Diese Untersuchungsmethoden geben immer nur ganz gezielt Auskunft über Einzelfunktionen des Hirns, zum Beispiel die Hirnstammpotentiale: wie akustische Signale und optische Reize verarbeitet werden in verschiedenen Stufen des Gehirns. Man kann also sehen, inwieweit die Reize verarbeitet werden. Aber herauszufinden, inwieweit die Reize zur Gesamtfunktion zusammengefaßt werden, das ist auch mit den modernen Methoden noch furchtbar schwierig. Beispiel: Bei tief bewußtlosen Patienten ist es durchaus möglich, einige höherwertige evozierte Potentiale abzuleiten, trotzdem sind die Patienten tief bewußtlos, realisieren also nichts von der Umwelt.

Es gibt also keine Perzeption der Perzeption, keine Reflexion.

Genau.

Und Sie würden vermuten, daß das auch der Zustand des guillotinierten Kopfes ist.

Würde ich vermuten, ja.

Es gibt da natürlich diese Legenden, die anderes vermuten lassen: Es heißt, daß der abgeschlagene Kopf der Maria Stuart noch Anzeichen machte, sprechen zu wollen. Der Kopf von Charlotte Corday - der Mörderin von Marat - soll vor Indignation errötet sein, nachdem der Henker ihn geohrfeigt hatte.

Da kann ich wirklich nichts zu sagen. Theoretisch denkbar ist es.

Gesetzt, das Bewußtsein wäre noch da: Wäre es dann physiologisch noch möglich, zum Beispiel den Mund zu bewegen?

Durchaus. Diese Funktion läuft ja auf den Nervenbahnen zwischen Gehirn und Mund. Dafür ist gar kein Anteil vom Rumpf erforderlich.

Wie stellt man denn bei einem Bewußtlosen die Bewußtlosigkeit fest? Die Apparatemedizin scheint da ja nicht auszureichen.

Durch Tests am Patienten. Es gibt ja verschiedene Stufen der Bewußtlosigkeit. Man testet die Reaktionen auf Ansprechen, auf Schmerzreize, man testet, ob der Patient gezielt reagiert, ob er seitengleich reagiert, ob er ungezielt reagiert oder ob er gar nicht mehr reagiert. Gerätemessungen allein reichen nicht aus, die wesentlichen Tests sind nach wie vor direkte Untersuchungen des Patienten.

In der berühmten Geschichte „Le Secret de l'Echafaud“ von Villiers de l'Isle Adam besteht der Test darin, daß der Guillotinierte mit dem Auge zwinkern soll. Die heutige Medizin wäre also nicht weiter, sie wäre auf ähnliche Tests angewiesen.

Bei der Guillotinierung allemal. Dann könnte man allerdings noch sagen, daß er es programmiert hätte, diesen Reflex ablaufen zu lassen. Man wüßte immer noch nicht hundertprozentig, ob er es bei vollem Bewußtsein tut. Ich erinnere mich auch an eine Geschichte aus Küßchen, Küßchen von Raoul Dahl, in der eine Frau den abgetrennten Kopf ihres Mannes mit nach Hause nimmt. Die Geschichte ist aus der Perspektive des Kopfes erzählt.

Wäre es mit den modernen Mitteln der Medizin - wenn alle Apparate sofort zur Verfügung stünden - möglich, einen abgeschlagenen Kopf am Leben und bei Bewußtsein zu halten?

Na sicher. Man muß nur die Zirkulation wiederherstellen, man braucht den Kopf nur an eine Herzlungenmaschine anzuschließen, und dann wird auch das Bewußtsein wiederkommen. Das Problem der Rückenmarksbahnen ist dabei nur sekundär.

Aber solche Fälle sind Ihnen nicht bekannt in der Medizin...

Es gibt schwere Verkehrsunfälle, bei denen es auch zu einer hohen Querschnittslähmung kommen kann. Da kann es durchaus passieren, daß das Rückenmark durchtrennt ist und die Blutversorgung zum Kopf für einige Zeit unterbrochen vielleicht nicht gerade so, daß der Kopf direkt neben dem Körper liegt: Bei einem schnellen Eingriff läßt sich das Bewußtsein trotzdem wiederherstellen. Das sind dann diese ganz schweren Fälle. Da gibt es auch die großen Probleme mit der ethischen Interpretation der modernen Medizin.

In solchen Fällen werden Patienten ja oft zurückgeholt. Würden Sie das auch mit einem Kopf machen, wenn er gewissermaßen „allein“ wäre?

Wir versuchen ja schon, humane Medizin zu machen, und sind uns unserer Grenzen sehr bewußt, gerade in so einem Fach wie der Neurochirurgie. Das ist ja sinnlos, einen Kopf allein am Leben zu erhalten. Das ist ja kein Leben.

Aber wenn er Bewußtsein hätte? Er hätte da doch auch ein Wörtchen mitzureden?

Ein abgeschlagener Kopf? Da müssen Sie die Philosophen und Theologen fragen! Ich finde, man muß schon den Patienten sehen und nicht den Kopf. Wie würden Sie denn entscheiden, um die Frage mal umzukehren?

Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen würde, wenn ich als Kopf neben mir läge.

Oder anders gefragt: Wie würden Sie bei Ihrer Frau entscheiden oder bei Ihren Eltern?

Interview: Thierry Chervel

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