Silvester am Tor: „Sowas hat Berlin noch nie gesehen“

■ Wie die Westdeutschen und Ausländer unterm Brandenburger Tor versuchten, deutsch-deutsche Euphorie zu spüren

„Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei...“ - Bratwürste tanzen über die Leinwand zum Gesang von Ex-Trio-Mitglied Stefan Remmler. Kurz vor Mitternacht blendet das DDR -Jugendmagazin Elf 99 auf einer etwa 10 Meter hohen Videowand seine letzte Sendung ein. Der Leinwandturm wurde eigens für den Jahreswechsel vor dem symbolbeladenen Publikumsmagnet Brandenburger Tor errichtet. Das DDR -Fernsehen überträgt live vom Pariser Platz mit Schaltungen zum SFB auf der Westseite des Tores.

Seit den frühen Abendstunden strömten die Massen von beiden Seiten zum Brandenburger Tor. Ab 23 Uhr ist die Straße Unter den Linden für Autofahrer nicht mehr passierbar: Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, laufen die „Völker der Welt“, bewaffnet mit Sektflaschen und Feuerwerkskörpern, Richtung Westen, Richtung Tor. Das Stimmengewirr ist wahrhaft international, neben sämtlichen ost- und westdeutschen Dialekten sind vor allem Italienisch, Französich und Englisch zu hören. Alle wollen sie dabei sein beim Großen Feiern und ihr authentisches 9.-November-Erlebnis haben. Ein italienischer Chor intoniert Unter den Linden Volkslieder, Eidgenossen marschieren im Gänsemarsch unter ihrer Flagge.

Vor dem Tor drängelt sich eine unübersehbare Menschenmenge, wild entschlossen zu feiern und fröhlich zu sein. Medienspektakel, die großen Fernsehgesellschaften der Welt stehen auf meterhohen Türmen oder hängen in schwenkbaren Käfigen über der Menge. Menschen überall, auf der Mauer, auf den Absperrgittern, in den Blumenrabatten und, als Krönung der deutsch-deutschen Feierseligkeit, auf dem Tor, den Kupferpferden der Quadriga. Etwa hundert junge Männer haben diese letzte Bastion erklommen, grüßen das Volk auf dem Platz, werfen die Arme hoch in der Gewißheit, auf der ganzen Welt gesehen zu werden. Die fast rührend anmutenden Aufforderungen des Moderators, doch bitte herunterzukommen, stacheln sie zum Gegenteil an. Zwei Wege führen hinauf zur Quadriga: einer am linken Flügel über eine Dachrinne, der andere rechts über das Gerüst der Videowand.

Zum Jahreswechsel geht dann - alle Erwartungen zur Gänze zufriedenstellend - ohne Rücksicht auf Verluste ein gewaltiges Feuerwerk in die Höhe. „Sowas hat Berlin noch nicht gesehen“, darin sind sich alle einig, auch die, die Berlin noch nie gesehen haben. Aus den dicht an dicht stehenden Menschen halte man eine Sektflasche in die Höhe, der Nachbar zündet, und ab geht das Geschoß, ein paar Verletzungen sind da schon in Kauf zu nehmen. Die Menschen müssen ihrer Begeisterung lauthals Ausdruck verleihen, „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ und die „Hymne an die Freude“, direkt unter dem Tor, wo die Stimmung deutschtümelnd-aggressiver ist, auch das Deutschlandlied. Oben auf der Quadriga hat ein fröhlicher Flaggenwettkampf eingesetzt, abwechselnd werden die DDR- und die BRD-Flagge gehißt. Schnaps und Sekt fließen in Strömen, der Platz ist übersät mit Scherben. Nach wenigen Minuten ist alles in dichte Rauchschwaden gehüllt, beißender Schwefelgestank reizt Augen und Lunge, das Fernsehbild auf der Videowand beginnt zu verschwimmen.

Die Menge ist begeistert über dieses Freudenfest und das kaum schwächer werdende Feuerwerk, wer hat schon einmal einen solchen Jahreswechsel erlebt. „Alles hat ein Ende...“

-um etwa halb zwei Uhr morgens bricht die Videowand, auf die mittlerweile Dutzende von Schaulustigen geklettert sind, unter ihrer Last zusammen, mitten in die Menge. Panik bricht aus, Katastrophenmeldungen überschlagen sich, man will von mehreren Toten wissen. Die Lage ist völlig unübersichtlich. Krankenwagen versuchen sich einen Weg zu bahnen, meist jedoch erfolglos, da sie in dem Meer aus Glasscherben nach wenigen Metern mit zerschnittenen Reifen liegen bleiben.

Für die Volkspolizei, die sich den ganzen Abend völlig im Hintergrund gehalten hatte, ist es unmöglich, die Situation in den Griff zu bekommen. Viele Totalalkoholisierte halten das Ganze für einen Riesenspaß, sie bewerfen grölend die VoPos mit Feuerwerkskörpern. Erst einer Menschenkette aus Besuchern und VoPos gelingt es, den Krankenwagen eine Gasse zu bahnen, die notdürftig von Scherben gesäubert worden ist.

So ein Tag, so wunderschön wie heute...

Kordula Doerfler