: Ein bißchen Gebrochenheit-betr.: "Wir haben einen Geborgenheitsfetisch aufgebaut", taz vom 22.12.89
betr.: „Wir haben einen Geborgenheitsfetisch aufgebaut“, taz vom 22.12.89
Als Philosoph sollte man doch wohl Verständnis für Philosophen haben. Folgt man dem Interview, das die taz mit Dr.Jünger von der Universität Leipzig führte, dann gilt jetzt - exemplarisch - alle Aufmerksamkeit und Weisheit der DDR-Philosophen der „modernen Sozialismustheorie“.
Da ist also eine Theorie alt geworden, zugleich aber allen Unkenrufen zum Trotz das „Projekt Moderne“ munter am Leben geblieben. Dessen Vitalität blitzt auf, sobald Jürgen Jünger die „konsequente Reform der Eigentumsstrukturen“ anspricht: die „Überführung des bisherigen Staatseigentums in hochdifferenzierte gesellschaftliche Eigentumsformen, bis hin zum individuellen Eigentum“. Dank Habermas‘ geliebtem „Ausdifferenzieren“ landet Jünger so bei einem Wesen, das offensichtlich mit dem, was es hat und besitzt, nurmehr sich selbst Gesellschaft leistet. Das überholt Platons Methode des Differenzierens (dihairein), die jeweils bei der „unteilbaren Art“ (atomon eidos) als letztem anlangt, um einen ganzen Himmel. Platon wäre in diesem Falle nicht weiter gegangen als bis zur „reinsten“ und „wahrsten“ Art von Gesellschaft. An einen Ausbruch aus dem Begriff selbst ist bei ihm nicht zu denken.
Doch was Jünger „im Sinne vernünftigen Menschheitsfortschritts zu befördern“ weiß, bietet weitere Überraschungen, am glückverheißendsten wohl die, daß er mittels Theorie in die Realität endlich Realität einführen möchte. So möchte er etwa den „Geborgenheitsfetisch“ der unmodern gewordenen Theorie neumodern gegen die „Situation der relativen Unsicherheit“ auswechseln. Die nämlich, so Jünger, existiere in der Welt ohnehin. Wo aber endet Jünger im ganzen? Über die Ideen der „solidarischen Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“, über „Prozesse der globalen Vergesellschaftung“ und „Aufhebung der bisherigen Zwei- und Dreiteilung der Welt“ bei der „Wirklichkeit“ selbst: beim „Kommunismus“, sofern er „die wirkliche Bewegung“ ist.
Wer seine „Deutsche Ideologie“ kennt, weiß um die Emphatik ihrer Wirklichkeit Bescheid. In genau 25 ausdifferenzierten Wendungen trumpft da die wissenschaftlich vermeinte Gewißheit vom Gang der Dinge sprachlich auf, angefangen mit der wirklich bestehenden Welt, in der die wirklichen Individuen die wirklichen Voraussetzungen des wirklichen Lebens sind, nämlich die wirklichen Menschen im wirklichen Lebensprozeß usw. Pfeift aber, wer sich so behauptet, nicht im Wald?
Lieber Jürgen Jünger, überlaß doch der alten Ontologie diese Emphatik („selbst“, „wahrhaft“, „wirklich“, „eigentlich“). Komm herunter und laß dir zum Nachdenken Zeit. Utopia goes on!? Ach, ein bißchen Gebrochenheit täte dir, täte euch und uns vielleicht doch ganz gut.
Rainer Marten, Freiburg
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