: Von der Wichtigkeit, nicht Ernst zu heißen
■ Ein Essay über die Frage, was an einem Namen dran ist
Enrique Vila-Matas
Unzählig sind die Schriftsteller, die sich niemals sicher waren, ob sie wirklich so heißen, wie man sie als Kind gerufen hat. Und deswegen haben sie Pseudonyme benutzt, einen Buchstaben in ihren Namen eingefügt (beispielsweise Faulkner), einen Bindestrich zwischen ihre beiden Nachnamen gesetzt, sich einen Beinamen gesucht oder sich im Stil von Pirandello oder Pessoa Schatten anderer Schatten erfunden, die eines Tages existierten, wenn es stimmt, daß sie existierten.
Flann O'Brien war einer dieser Verrückten. Sein wirklicher Name war Brian O'Nolan und für seine Zeitungsartikel benutzte er das Pseudonym Myles na Gopaleen (das in seiner Heimat Irland überaus populär ist). Sein Pseudonym als Romancier hatte dagegen nicht den geringsten Erfolg, und so blieben seine beiden Meisterwerke, die Romane Zwei Schwimmvögel und Der dritte Polizist vollkommen unbeachtet (sie wurden von sage und schreibe vierzig Verlegern abgelehnt). Er versteckte sich auch hinter den Namen John James Dol, George Knowland, Alesteir Bloom, Brother Barnabas, Lir O'Connor und Stephen Blakesley.
Offensichtlich sucht ein Mensch, der so viele Verkleidungen benutzte, die Anonymität. Er erlangte sie nicht, und es muß ihm sehr unangenehm gewesen sein, als er zu einem erfolgreichen Zeitungsschreiber wurde. Wahrscheinlich wäre es ihm als das kleinere Übel vorgekommen, wenn er mit seinem Pseudonym als Romancier Ruhm erlangt hätte, wenn es schon unbedingt sein muß. Aber nein. Das Leben ist bekanntlich grausam. Über Nacht begann ganz Dublin den brillanten Kolumnisten mit Myles na Gopaleen zu assoziieren, und diese triumphale Invasion des Pseudonyms über Flann O'Brien und Brian O'Nolan brachte ihn schließlich zur Strecke. Der Alkohol gab ihm den Rest und zog den Schlußstrich unter eine trübselige Lebensbilanz.
Wenn ich mir diese Dubliner Geschichte wachrufe, muß ich mich auch an Bernardo Atxaga erinnern, den jungen und großen baskischen Schriftsteller, dessen Vor- und Nachname in Wirklichkeit ein Pseudonym ist; so hieß einer seiner Schulkameraden, den er über viele Jahre hinweg aus den Augen verloren hatte, bis er ihn schließlich, als sein Name als Schriftsteller schon einen berühmten Klang hatte, in den Straßen von Bilbao wiedertraf. Etwas ängstlich zögerte er zunächst, ihn anzusprechen, aber dann gab er sich einen Ruck und begrüßte seinen Doppelgänger: „Hallo, Bernardo, wie geht es dir denn so, alter Knabe?“ Ohne mit der Wimper zu zucken, entgegnete ihm sein ehemaliger Schulkamerad: „Ich heiße nicht Bernardo, sondern Cornelio, Cornelio Atxaga, und ich begreife nicht, wie du so einen Namen vergessen konntest.“
Jetzt fällt mir der merkwürdige Fall eines Freundes ein, der schon gestorben ist. Er arbeitete in den siebziger Jahren in verschiedenen alternativen Blättern mit und verbarg sich immer hinter allen möglichen Pseudonymen, bis er eines Tages dasjenige entdeckte, das von allen am angemessensten war und ihn auf der ganzen Welt am besten verbergen konnte, und das war paradoxerweise sein eigener Name. Von seinem besonderen Gespür für literarische Perversionen verleitet, stellte er seinem ersten Artikel, den er mit seinem wirklichen Namen unterzeichnete, ein irreführendes Zitat von Georges Bataille voran: „Insgeheim oder offen ist es notwendig, sich in einen anderen zu verwandeln oder nicht mehr zu sein.“ Er war auf eine extrem subtile Formel gestoßen, um nicht mehr derselbe zu sein: es zu sein. Brian O'Nolan wäre diese Lösung vielleicht gelegen gekommen. Denn Tatsache ist, daß mein Freund von dem Augenblick an, als er diesen Artikel veröffentlichte, nach seinen eigenen Worten die Ruhe und Gelassenheit kennenlernte, die einem immer die Maske des eigenen Namens gibt.
Aber ich vermute, daß der Fall meines Freundes nichts weiter als die Ausnahme ist, die die Regel bestätigt, die Regel nämlich, daß die Schriftsteller für gewöhnlich den Worten, aus denen sich ihr Name zusammensetzt, ebenso mißtrauen wie der Materie, aus der ihre Bücher bestehen („Sogar die Worte verlassen uns, und damit ist alles gesagt“, schrieb Samuel Beckett). Daher flüchten sie sich in ein Pseudonym, in den sogenannten nom de plume, von dem die Franzosen behaupten, sie hätten ihn erfunden, obwohl der Wahrheit zuliebe gesagt werden muß, daß schon Platon einen nom de plume benutzte, seinen Beinamen nämlich.
Das alles führt uns dazu, uns zu fragen, was eigentlich an einem Namen dran ist. Unter den alten Ägyptern erhielt jede Person zwei Namen: einen kleinen, der allen bekannt war, und einen wahren oder großen Namen, den man versteckt hielt. Als Walter Benjamin auf der Suche nach diesem persönlichen Engel war, den das geheime Ich des menschlichen Seins darstellt, dessen Name jedoch für einen selbst verborgen bleibt, schrieb er, wie bekannt ist, einen waghalsigen hermetischen Text. Er gab ihm den Titel Agesilaus Santander, eine anagrammatische Form von Der Angelus Satanas, etwas mehr als ein bloßes Pseudonym, nämlich die verborgene Wirklichkeit seines eigenen Ich.
In Joyces Ulysses lesen wir: „Was ist an einem Namen dran? Das fragen wir uns, wenn wir als Kinder diesen Namen niederschreiben, von dem man uns gesagt hat, daß es der unsrige sei.“ Sehr viel früher hat sich William Shakespeare mit dieser Frage beschäftigt, und zwar durch den Mund von Julietta: „Was wir Rose nennen, würde mit jedem anderen Namen genauso duften.“ Wie naiv von Julietta, nicht von Shakespeare. Die arme Verliebte hätte wissen müssen, daß nur ihr Familienname Capuletto und derjenige ihres Romeo, Montesco, schuld daran sein würden, daß sich ihre Liebe in eine Tragödie verwandelte.
Wenn wir schon vom Namen der Rose sprechen, möchte ich daran erinnern, daß sich der Philosoph Wittgenstein an einer gewissen Stelle fragte, wie wenn er Julietta zugehört hätte: „Ist die Rose in der Dunkelheit rot?“ Fragen in diesem Stil finden sich in der gesamten Menschheitsgeschichte, wobei es meistens die Schriftsteller sind, die sie formulieren, ebenso wie sie auch am meisten nach Pseudonymen süchtig sind. Vielen, das muß auch gesagt werden, haben diese Pseudonyme sehr geholfen. Denn wer hätte mit dem gleichen Entdeckereifer die Romane eines polnischen Schriftstellers namens Teodor Korzeniowskij gelesen, hätte ihr Autor nicht unter seinem Pseudonym Joseph Conrad firmiert? Gorki beispielsweise hieß in Wirlichkeit Alexej Maximowitsch Peskow. Ein unmöglicher Name. Er legte sich das Pseudonym Gorki zu, was auf russisch bitter heißt, und schon erlangte er Ruhm, so sehr, daß durch die Ironie des Schicksals die Einwohner des ehemaligen Nijnij Nowgorod, das jetzt Gorki heißt, weil hier der Schriftsteller geboren war, durch seine Schuld in Bitternis leben.
Was ist also an einem Namen dran? Ist es denn beispielsweise wirklich so wichtig, Ernst zu heißen? Um konkret auf diese Frage zu antworten, würde ich sagen nein, das ist es nicht, denn es weiß nicht jedermann, daß derjenige, der auf diese Weise den Titel eines Stückes übersetzt hat, Hochverrat beging (Augusto Monterroso erzählt es in La palabra magica). The Importance of Being Earnest mit „Die Wichtigkeit, ernst zu sein“ zu übersetzen, wäre wirklich ehrenhaft gewesen; aber aus dem gleichen Grund etwas brav. Das paßt ganz und gar nicht zu der Vorstellung, die wir von Oscar Wilde haben (das scheint ein Pseudonym zu sein, ist es aber nicht, es handelt sich einfach um einen gelungen Namen). „Natürlich ist alles implizit (schreibt Monterroso), aber es gehört schon ein gehöriges Stück Talent und Boshaftigkeit dazu, um 'ernst sein‘ gegen 'Ernst heißen‘ auszutauschen.“
Also ist die Frage, was in einem Namen stecken könnte, etwas sehr Ernstes. Und wenn Sie es nicht glauben, fragen Sie Ödipus. Oder mich (E. Vila-Matas ergibt rückwärts gelesen mit einer kleinen Änderung „Satan Alive“). Oder wenn Sie es immer noch nicht glauben, dann fragen Sie Enderby, diese Figur von Anthony Burgess, den man in einer Nervenklinik mit der einfachen aber sehr wirkungsvollen Methode heilte, seinen Namen auszutauschen. Oder fragen Sie den Verleger Lara, der sich bei einem gewissen Anlaß verpflichtet fühlte, seine Autoren mit Pseudonymen zu bedenken. Er übertrieb seinen andalusischen Akzent und bezog sich folgendermaßen auf Vicky Baum, Pearl S. Buck und Somerset Maugham: „Ich habe die besten Autoren der Welt: die Vikibu, die Persabu und den Somerse.“
Übersetzt von Orlando Grossegesse
Zuerst erschienen unter dem Titel „La importancia de non llamarse Ernesto“ in „Diario 16“ vom 7.1.1989
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