: Die Perestroika schlägt zurück
■ Gorbatschow sagt außenpolitische Gespräche ab / Estlands Genossen wollen sich abseilen / Kein Kompromiß in Litauen / Aufruhr in Baku
Berlin (dpa/afp) - Der innenpolitische Trubel hält den sowjetischen Staats- und Parteichef Gorbatschow mehr denn je in Atem. Für den Januar hat er alle internationalen Gespräche erst einmal abgesagt. Der Chef der britischen Labour Partei, Neil Kinnock, wurde als erster gebeten, seinen für die nächste Woche geplanten dreitägigen Besuch in Moskau zu verschieben. Unmittelbarer Anlaß sind die gescheiterten Gespräche mit dem Politbüro der litauischen KP in Moskau, bei denen es in der Frage der Unabhängigkeit von der KPdSU zu keinem Kompromiß gekommen war. Vom 10. bis zum 12.Januar wird Gorbatschow mit einigen Mitgliedern des Zentralkomitees in die litauische Hauptstadt Vilnjus fahren, um dort doch noch einen Kompromiß zu erreichen. Nach der Rückkehr der Moskauer Delegation wird die unterbrochene Sitzung des Zentralkomitees der KPdSU fortgesetzt. Es ist nicht unmöglich, daß sich für den Generalsekretär dann die Existenzfrage innerhalb der Partei stellt.
Doch auch an anderen Stellen brennt es inzwischen. Gestern wurde ein Brief der Partei Estlands an das ZK der KPdSU bekannt, in dem das Trennungsansinnen der Genossen aus Litauen unterstützt wird.
Mehr als 100.000 Demonstranten forderten in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku die Öffnung der Grenzen zwischen Nachitschewan und Iran. Mitglieder der Volksfront drohten an, Kasernen in Brand zu stecken, wenn die Grenzanlagen nicht sofort beseitigt würden. Das berühmte Denkmal von Schaumjan und den 26 Kommissaren in Baku ist demoliert worden, ebenso wie das von Feliks Dzierzynski, dem dem Gründer der Tscheka. Die sowjetische Regierung versucht den Konflikt herunterzuspielen. Das Grenzproblem solle nach dem Vorbild der sowjetischen Eskimos gelöst werden, die ohne Visa ihre Verwandten in Alaska besuchen können. Allerdings zeigen sich die Vertreter der Volksfront nicht beschwichtigt. Sie haben nicht nur beim Fernsehen gegen die „tendenziöse Berichterstattung“ protestiert, in der sie als „Extremisten “ bezeichnet wurden, sie halten die Kompromißbereitschaft der Regierung für eine Täuschung. Da nützt es wenig, daß der KP-Chef von Nachitschewan, M.G. Isajew, durch A. Dschalilow ersetzt wurde. Siehe Seite 8
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