piwik no script img

Stilyagi und Luberi

■ Ein Buch über die Rockmusikszene in der UdSSR

Es war nur eine Frage der Zeit, wann das erste Buch über „Rock und Subkultur in der UdSSR“ erscheinen würde. Während Boris Grebenschikov, der Ex-Moskauer Superstar, in Los Angeles gnadenlos zum Sting-Epigonen umfrisiert wird und zweitklassige sowjetische Hardrock-Bands in Westeuropa als Exoten verkauft werden, schreibt Artemy Troitsky den ersten Versuch einer Chronik der (untergründigen) Geschichte sowjetischer Rockmusik.

Obwohl Troitsky als Journalist und Veranstalter/Manager einer der kompetentesten Begleiter des Rock-Undergrounds der UdSSR ist, schraubt er den Anspruch an sein Buch zurück. Es enthalte keine Analysen, bemerkt er im Vorwort, es würden auch einmal fundamentalere Werke über „Rock in Russland“ geschrieben werden, aber dieses sei das erste; sowohl in der Sowjetunion als auch im Westen. Zusammen mit Troitsky begibt man sich anschließend auf einen 150seitigen bebilderten Streifzug durch knapp 30 Jahre sowjetischer Subkultur: angefangen bei den „Stilyagi“ Ende der 50er bis zu den Punks, „Luberi“ und Avantgardisten Mitte der 80er. Äußerst detailreich zeichnet er den verschlungenen Weg der Sowjet -Rocker nach - von der offiziellen Stilisierung als „Bourgeoisie Dekadenz“ bis zur teilweisen Integration, die Vorbildcharakter haben soll.

Doch leider wird man allzu üppig mit Gruppennamen, Bandaktivitäten und Festivalgeschichten überschüttet, aus denen man sich die auch für uns interessanten Informationen und Einschätzungen erst mühsam heraussuchen muß. Denn so wichtig die Geschichte von „Time Machine“, „Aquarium“, „Bravo“, „Automat“, „Televisor“ und über hundert anderen Bands auch ist - ohne je einen Ton von ihnen gehört zu haben, bleibt es Faktengehuber von lediglich dokumentarischem Wert.

Wer sich davon allerdings nicht abschrecken läßt, bekommt, oft in kurzen Anmerkungen versteckt, einen ersten Einblick in eine selbstorganisierte, lebendige Subkultur, die für den Alltag von Millionen sowjetischer Jugendlicher wahrscheinlich weit größere Bedeutung hat als viele Beschlüsse des ZKs.

Wir erfahren von den „Stilyagi“ in Moskau, die sich in Musik und Kleidung an Duke Ellington und anderen Jazzern orientierten; von den ersten estländischen Rockbands Anfang der 60er, die sich durchs finnische Radio und Fernsehen mit Informationen über die „westliche“ Musik versorgten, und wundern uns über den Kultstatus, den die Beatles wegen ihrer Melodien auch heute noch haben. Über 20 Jahre lang organisierten die sowjetischen Rockmusiker und ihre Fans in halblegalem oder illegalem Rahmen ihre Konzerte, preßten sogenannte „Rippenplatten“ aus dem Plastik von Röntgenplatten und kopierten Cassetten.

In dieser Zeit setzte die offizielle, seriöse Kulturbürokratie auf Folklore und Liedermacher. Sie grenzte die Rockmusiker aus, oder versuchte sie wie Anfang der 80er, bürokratisch zu maßregeln und zu kontrollieren. Der Höhepunkt dieses ungleichen Kampfes war der Winter 1984, in dem jede professionelle Gruppe gezwungen war, sich einer Kommission des Kulturministeriums zu stellen und ein Programm zu präsentieren, in dem 80 Prozent der Lieder von Mitgliedern der offiziellen (vergreisten) Komponistengewerkschaft geschrieben sein mußten. Die Alternative lautete Auftrittsverbot und damit Auflösung. „Glasnost“ bedeutete für die sowjetische Rockszene einen krassen und widersprüchlichen Einschnitt. Die „nihilistischen“ Wirkungen der Rockmusik wurden nicht mehr verdammt, der potentiell sozial-integrative Gehalt von Rockmusik wurde langsam erkannt. Troitsky nennt dafür verschiedene Gründe: Rockmusik als Ausweg aus dem Alkoholproblem, Rockclubs als Transmissionsriemen zur apolitischen Jugend und Rockmusik als noch unentdecktes kommerzielles Potential in einer Zeit, in der die kulturellen Institutionen gezwungen sind, profitorientiert zu arbeiten. Sein Kommentar ist zwiespältig. Es gibt mehr Freiheiten - gleichzeitig wird die Energie der sich vorher selbst organisierenden Musiker - wie im Westen schon immer in musikindustrielle Bahnen geleiten: „Ich sehne mich nicht nach den häßlichen alten Zeiten zurück, wenn ich behaupte, daß die Rockmusik um so besser war, je negativer sich die offizielle Einstellung ihr gegenüber zum Ausdruck brachte“.

Solche klaren Stellungnahmen und Einschätzungen sind in Troitskys Buch eher die Ausnahme. Er gibt keine Antworten, er ist nur der Chronist, der das Material liefert.

Aber er hat Gespür für die richtigen Fragen, indem er den Engländern Billy Bragg - Ex-Punk und linker E-Gitarrenpoet bei einem Besuch 1986 in Moskau zitiert: „Billy sang, sprach und beantwortete jede Menge Fragen der Art von 'Glauben Sie tatsächlich an Gewerkschaften und ähnlichen Mist?‘ Er, der Vertreter der Ideale der Arbeiterklasse, wurde plötzlich von skeptischen roten Rockern herausgefordert. Er zeigte dem Publikum T-Shirts mit Designs von Yuri Gagarin und Majakowski und erzählte: 'Viele Künstler, Musiker und junge Leute im Westen interessieren sich für russische, revolutionäre Kunst, weil sie neue Ideen und Stile suchen. Also braucht ihr wirklich nicht Richtung Westen zu schauen, wenn ihr Inspiration sucht. Wir haben für eure Probleme keine Antworten. Ihr habt ein faszinierendes kulturelles Erbe. Warum also bleibt ihr nicht bei euren eigenen Wurzeln und entwickelt die Errungenschaften der Avantgarde der zwanziger Jahre weiter?“

Wieland Krämer

Artemy Troitsky: Rock in Russland. Rock und Subkultur in der UdSSR. hanibal 1989. 28 DM.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen