: Gorbatschows Flucht nach vorn
■ Der sowjetische Staats- und Parteichef auf schwieriger Mission in Litauen
„Gorbi, Gorbi!“ - wohlbekannte Rufe schollen dem sowjetischen Staatsführer bei seiner Ankunft in Litauen entgegen. Doch Händeschütteln mit der Bevölkerung und das Bad in der Menge können nicht darüber hinwegtäuschen, daß sein dreitägiger Besuch in der nach Loslösung trachtenden Baltenrepublik bislang nicht von Erfolg gekrönt ist. Gorbatschows Kompromißvorschlag, ein Gesetzentwurf zur Regelung des möglichen Austritts eines Teilstaates, wurde von den litauischen Nationalisten bereits als „Lüge“ und als „Falle“ abgetan.
Zu seinem Besuch in Litauen hat Generalsekretär Gorbatschow ein Präsent mitgebracht: den Entwurf eines Sezessionsgesetzes, das das Verfahren für den Austritt einer Republik aus der Sowjetunion regelt. Dieses Recht auf Sezession ist in der sowjetischen Verfassung von 1977 zwar festgeschrieben, aber bislang war es ausgeschlossen, es auch in Anspruch zu nehmen. Nach dem neuen Gesetzentwurf soll das Parlament festlegen, wie Wirtschaft, Verteidigung und andere verflochtene Interessen zwischen einer austrittswilligen Teilrepublik und der Sowjetunion geregelt werden können. Das neue Gesetz wird den Austritt allerdings nicht gerade leichtmachen, da in einem längeren Prozeß dem Austrittsantrag eines Teilstaates nicht nur die Union, sondern auch die verbleibenden Sowjetrepubliken zustimmen müssen. Im Falle eines Falles muß außerdem für die Umsiedlung derjenigen Bürger gezahlt werden, die in der UdSSR bleiben wollen. Ein Vorschlag also an die Balten, gehen zu dürfen, damit sie bleiben wollen.
Er sei „für Selbstbestimmung bis hin zum Recht auf Sezession aus der Sowjetunion“, bekannte der Staats- und Parteichef in der litauischen Hauptstadt Vilnius, fügte jedoch hinzu: „Souveränität ist ein natürlicher Wunsch, aber im Rahmen eines Bundesstaates.“ Bereits nach seiner Ankunft hatte er Zweifel an der Zugehörigkeit Litauens zur Sowjetunion zurückgewiesen und die Nationalisten gemahnt, auf dem Verhandlungsweg zu bleiben, denn: „Ich bin derjenige, der diesen Weg gewählt hat, und mein eigenes Schicksal hängt von dieser Entscheidung ab.“ Und: „Bestimmte Kreise in dieser baltischen Republik spekulieren mit dem natürlichen Nationalgefühl der Menschen und versuchen, ihrem Volk ein von den Realitäten losgelöstes Handlungsschema aufzuzwingen.“
Gorbatschow referierte seine Vorstellungen am Donnerstag abend im Haus der Presse vor litauischen Intellektuellen, derweil draußen auf der Straße Zehntausende ihre Fahnen für die Unabhängigkeit schwenkten - insgesamt waren es wohl mehr als 300.000 Menschen. Mit Bussen hatte die litauische Volksfront und Nationalbewegung Sajudis, die die Kundgebung organisierte, Demonstranten aus der übrigen Republik in die litauische Hauptstadt gebracht, die nur 600.000 Einwohner zählt. Sicherheitskräfte oder Soldaten waren während der gesamten Kundgebung nicht zu sehen. In den überfüllten Straßen und auf dem Platz vor der Kathedrale brannten Zehntausende Kerzen, über denen Fahnen in den litauischen, aber auch estnischen und lettischen Farben wehten. Das litauische Fernsehen, das die Demonstration direkt übertrug, berichtete von ähnlichen Protestaktionen in anderen Städten der baltischen Republik.
Unter den Demonstranten befanden sich die Nummer zwei der Kommunistischen Partei Litauens, Wladimir Beriosow, der Vorsitzende von Sajudis, Witautas Lansbergis, und der litauische Ideologiechef Winschas Palzikis, dessen Vater eines der Gründungsmitglieder der litauischen KP und Befürworter des Anschlusses an die Sowjetunion gewesen war. Nun wehten Fahnen mit dem Slogan „Red Army Go Home“ über der Menschenmenge. Lansbergis wiederholte vor den Demonstranten die Absage von Sajudis an Gorbatschow, den Unabhängigkeitskampf aufzugeben: „Wir wollen keine neue Förderation, die ein goldener Käfig für die Nationen wäre“, erklärte er. Nachdem die Moskauer Führung die militärische Aggression gegen Afghanistan und die Tschechoslowakei anerkannt habe, müsse sie dies nun auch gegenüber den baltischen Staaten tun. Lansbergis drückte außerdem sein Vertrauen in Gorbatschow aus, der „gerechte Maßnahmen“ ergreifen werde.
Der wiederum bekannte im Haus der Presse, er teile viele Punkte in der politischen Plattform der unabhängigen litauischen KP. Sie seien nur zu scharf formuliert. Wichtig sei, sie in der ganzen Partei zu diskutieren. Denn eine Spaltung der KPdSU sei das Ende der Perestroika. Die Kommunistische Partei müsse sich von innen heraus reformieren. Auf dem Plenum des Zentralkomitees der Partei Ende Januar, wo er über seine Baltikumreise zu berichten habe, werde ein ganzes Paket radikaler Maßnahmen zur Partei -Perestroika vorgelegt, mit der die Selbständigkeit für die KPs der Republiken garantiert werde.
Doch sein Entgegenkommen nahmen die litauischen Nationalisten nicht gerade gnädig auf. Sie sahen darin lediglich eine Verzögerungstaktik. „Lüge, Falle, politisches Manöver“ - ihren Führern gingen gestern die Worte aus, die dem Ausmaß ihrer Ablehnung Ausdruck geben sollten. „Es ist eine billige Lüge - ich weiß nicht, ob das von ihm kommt oder ob man es ihm untergeschoben hat“, erklärte der Vorsitzende der Sajudis, Vitautas Lansbergis. „Es ist eine Lüge, die an Naivlinge gerichtet ist, vor allem an den Westen. Es interessiert uns nicht. Wenn wir bei diesem Projekt mitmachen würden, würden wir damit anerkennen, daß wir Teil der UdSSR sind.“
Wollte Gorbatschow
Zeit gewinnen?
In Anbetracht der Tatsache, daß die wichtigsten Gesetzesvorhaben der Perestroika - zu Eigentum, Boden und Pressefreiheit - fünf Jahre nach Beginn der Erneuerung noch immer nicht verabschiedet sind, ist Gorbatschows Ankündigung tatsächlich recht vage. Der bedrängte Staatschef habe offensichtlich Zeit gewinnen wollen, meinten Beobachter in Moskau und Vilnius, dabei aber gleichzeitig einen Impuls gegeben, der sich sehr leicht gegen ihn wenden könne. Bisher hatte sich der sowjetische Staatschef davor gehütet, eine öffentliche Diskussion über mögliche Sezessionen aus der Union zu ermutigen. Der Vorschlag, den er am ersten Tag seines Besuches in Vilnius formulierte, könnte nun die konservativen Kreise aufbringen, die ihm ohnehin schon vorwerfen, die Union mit seiner Politik zu schwächen.
Obgleich er ursprünglich gekommen war, um die litauischen Kommunisten zur Rücknahme ihrer Abspaltung von der KPdSU zu bewegen, mußte sich Gorbatschow in erster Linie mit der Unabhängigkeitsforderung der Litauer auseinandersetzen „ein erster Erfolg“, schätzten die Sajudis-Führer ein. Gorbatschow plädierte dagegen verzweifelt für eine Erneuerung der Föderation und zählte bei jeder Gelegenheit die Argumente gegen einen Austritt Litauens aus der Union auf. Mehrmals verlor der Staatschef die Fassung und ließ seine Verärgerung aufblitzen. „Ein sehr interessantes Politschauspiel“, nannte ein Diplomat seine auch im Fernsehen übertragene Diskussion mit den litauischen Intellektuellen. „Doch weder Gorbatschow noch der Gegenseite ist es gelungen, einander zu überzeugen.“
Gisbert Mrotzek/afp
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