: „In diesem Haus ist nichts merkwürdig“
■ Ein 23jähriger Gelegenheitsarbeiter saß zwei Monate tot vor seinem laufendem Fernseher, bis er gefunden wurde / Der Vermieterin war aufgefallen, daß er seit November keine Miete mehr bezahlte / Die Hausbewohner bemerkten nichts / Leichengeruch hängt im Flur fest
Hunderte tanzen auf der Mauerkrone, an den Grenzübergängen ist vor lauter Menschen kein Durchkommen, auf dem Ku'damm herrscht ein heilloses Verkehrschaos: Bilder von der gefallenen Mauer, die Anfang November über die Mattscheibe der Fernseher flimmerten. Auch der 23jährige Gelegenheitsarbeiter Ingo S., der vor anderthalb Jahren aus der DDR übersiedelte und seither eine Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Mietshaus in der Spandauer Lynarstraße 13 bewohnt, hat es sich in einem Sessel vor der Glotze bequem gemacht. Doch die Bilder auf dem Monitor rühren Ingo S. im Gegensatz zur Mehrzahl der Berliner überhaupt nicht an: Ingo S. ist tot.
Sein Leichnam wurde erst am vergangenen Montag entdeckt: Die Polizei öffnete auf Geheiß der Vermieterin die Wohnung, weil Ingo S. seit November keine Miete mehr bezahlt hatte. Der Leichnam, der über zwei Monate vor dem laufenden Fernseher gesessen hatte, war bereits so stark in Fäulnis übergegangen, daß die eindeutige Todesursache nicht mehr festzustellen sein wird. Als sicher gilt nur, daß Ingo S. am 6. November noch gelebt hat, weil in der Wohnung eine Zeitung dieses Datums gefunden wurde. Ein Fremdverschulden als Todesursache scheidet nach Angaben der Polizei aus.
„Nee, ick hab nix gehört, hier sind doch dicke Mauern drin“, versichert ein Mieter der Lynarstraße 13, der einen Stock unter Ingo S. wohnt. „Ick weeß noch nich mal, wie der ausgesehen hat, ick gloobe, der hat noch nich lange hier gewohnt“, heißt die magere Auskunft, bevor die Tür ins Schloß fällt.
Eine junge Frau, die gerade vom Einkaufen kommt und auf dem Weg zu ihrer Wohnung im vierten Stock ist, hat das kurze Gespräch mitbekommen. „Merkwürdig? In diesem Haus ist nichts merkwürdig“, erklärt sie mit Hinweis darauf, daß in dem Haus 30 Mietparteien wohnen und eine Fluktuation wie im Taubenschlag herrscht. Schuld daran sei die in Zehlendorf wohnende Vermieterin, die nur hinter dem Geld her sei, die Miete der freiwerdenden Wohnungen ständig erhöhe, das Haus verfallen lasse und nicht einmal eine Hauswartsfrau anstelle. Die junge Frau, die bei der Firma Bosch Schichtdienst schiebt und im Akkord Autoantennen montiert, erklärt, daß sie und ihr Mann in dem Haus nur deshalb fünf Jahre ausgehalten hätten, weil es keine anderen Wohnungen gäbe. Damit gehörten sie fast zu den ältesten Mietern des Hauses, nur der Rentner im zweiten Stock wohne länger hier. Wenn jemand im Haus den Toten gekannt habe, dann der Rentner, vermutet die Montiererin und kommt neugierig mit zu dessen Wohnung im zweiten Stock - direkt neben der von Ingo S.
Der Rentner, der „stramm auf die 82 zugeht“ und schon etwas schwerhörig ist, wohnt seit 51 Jahren in der Lynarstraße 13. Er berichtet, daß er von Ingo S. „nur wenig“ mitbekommen habe, weiß aber noch, daß dessen Mutter und Bruder aus dem Osten nach der Maueröffnung am 10.November da waren und geklopft und gerufen haben: „Ingo, mach auf.“ „Die dachten, der ist da“, erinnert sich der Renter, „weil sie durch den Briefschlitz den Fernseher gehört haben. Ich habe mich mit der Mutter noch unterhalten. Weil die meinte, daß ihr Junge wohl eine Braut hat, habe ich mich dann auch nicht mehr gekümmert“. Ein anderer Mieter, der auf dem Treppenabsatz schon eine Weile zugehört und Ingo S. auch nicht gekannt hat - „War das so ein großer Schwarzhaariger?“ -, beschwert sich über den Leichengeruch im Hausflur: „Nicht mal die Fenster kann man aufmachen, weil keiner einen Schlüssel hat.“ Den Rentner intressiert vielmehr, warum niemandem im Haus aufgefallen ist, daß der Briefkasten von Ingo S. nicht geleert wurde. Er selbst entschuldigt sich damit, daß es „nur Aufregung und Ärger bringt, wenn man sich um die anderen Mieter kümmert“. Nach den im Erdgeschoß aufgereihten Briefkästen zu schließen, gibt es in dem Haus noch mehr Mieter, bei denen man dringend mal klingeln müßte: Zwei Briefkästen sind mindestens genauso voll mit Werbeprospekten wie der von Ingo S.
plu
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