: Deutsch - was ist das ?
■ Christiane Mueller und Michael Berger im Studio auf den Häfen
Deutschland hat sich in den letzten Monaten sehr verändert! Oder? „Eine Spurensuche“ nennen Christiane Mueller und Michael Berger ihr Programm mit Liedern und Texten:„So kam ich unter die Deutschen ...“ Und einiges klingt jetzt wirklich ganz anders - die Lieder von Biermann zum Beispiel. Die „Ballade vom Preußischen Ikarus“ rückte plötzlich viel näher an die Texte über die deutsche Heimat von Tucholsky und Heine heran. Christiane Mueller wies auch immer wieder darauf hin: das eine Lied sei ausgewechselt worden, das andere sei „trotzdem“ im Programm geblieben, aber überraschend war, daß die meisten Stücke immer noch so genau trafen, selbst wenn sie über hundert Jahre alt waren.
In zehn Kapiteln mit Titeln wie „Der Untertan“, „Die verpaßte Revolution“, „Vereinsmüllerei“ oder „Deutsche im Ausland“ wurde eine sehr raffiniert zusammengestellte Anthologie vorgeführt, in der die Texte sich gegenseitig kommentierten, widersprachen oder ergänzten. So paßte Erich Mühsams „Der Revoluz
zer“ wunderbar zum „Papier-Truthahn“ von Enzensberger und nach Brechts „Ballade von der Judenhure Marie Sanders“ war der groteske Wörterbrei von Ernst Jandls „Heldenplatz“ ein erlösender Kontrast.
Die vielen Stimmungswechsel des Programms - vom Spott zur Trauer, vom Chanson zum Traktat, wurden durch Christiane Muellers unaufdringliche, aber immer persönliche Vortragsweise zu spannenden Variationen über ein Thema. Die Arangements und die Pianobegleitung von Michael Berger wurden mit dem gleichen intelligenten understatement präsentiert. Bei den Chansons und Liedern von Eisler, Biermann und einmal sogar Grönemeyer wurde da klassische Kleinkunst mit Klavier geboten.
Etwas mehr Freiheit nahmen sich beide bei einigen nicht durch die Komposition festgeschriebenen Stücken. Tucholskys „Trunkenes Lied“ wurde so zu einem Rap mit einem irrwitzigen Holterdipolter-rhythmus auf dem Synthesizer, der „Middle Class Blues“ von Enzensberger (mit der Klage „wir können nicht klagen“)
war ein Sammelsurium von Bluesklischees und zu Paul Celans „Todesfuge“ wurden dunkle, impressionistische Töne auf dem Flügel angeschlagen und gezupft.
Es ist natürlich auch sehr deutsch, sich einen ganzen Abend über die Deutschen Gedanken zu machen. Und ein Reiz solcher Veranstaltungen ist, daß man sich selber auf den Rücken
klopfen kann, weil „so deutsch bin ich ja noch lange nicht.“ Ähnlich ging es mir mit dem letzten Text, Hölderlins „So kam ich unter die Deutschen“, in dem er sich beklagte, hier nur Handwerker und keine Menschen zu finden. Denn obwohl
Christiane Mueller und Michael Berger an diesem Abend
zeigten, daß sie ihr Handwerk beherrschen, hatte der
Abend genug Originalität, Poesie und Esprit, um hinter
Hölderlins häßlichem Handwerker einen anderen Deutschen
aufscheinen zu lassen.
Willy Taub
weitere Aufführungen heute und morgen abend im Studio auf den Häfen um 20.00 Uhr
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