Hotel du Nord

■ Ein literarischer Mythos in Paris und sein Schöpfer: Eugene Dabit

Manfred Flügge

Es gibt Stellen in Paris, an denen die Stadt ins Unwirkliche überhöht wird, surrealistische Oasen, an denen eine sonst verdeckte Schicht unter der bekannten, sichtbaren, realen Stadt zutage tritt. Ein solcher Ort ist die Stelle am Canal Saint-Martin im zehnten Arrondissement, kurz bevor der aus Südosten kommende Kanal eine Kurve in nordöstliche Richtung macht. Hier kreuzt eine Drehbrücke den Kanal in diagonaler Linie und verbindet die auf der südlichen Seite gelegene Rue de Lancry mit der nach Norden führenden Straße mit dem wundersamen Namen Rue de la Grange aux Belles, die aber an keiner Scheune voller schöner Frauen vorbeiführt, sondern an dem riesigen Komplex des Krankenhauses St.Louis. Die Kanal -Uferstraßen haben Namen nach Schlachtfeldern der großen Revolution, auf der südlichen Seite ist es der Quai de Valmy, auf der nördlichen Seite der Quai de Jemmapes. Neben der Drehbrücke überquert eine Fußgängerbrücke in hohem Bogen den Kanal, der an dieser Stelle eine Doppelschleuse aufweist.

Das zweite Haus vor der Ecke zur Rue de la Grange aux Belles trägt die Nummer 102, Quai de Jemmapes. An der Fassade des Hauses steht in blauen Goßbuchstaben „HOTEL DU NORD“. Gegenüber ist ein Häuschen, das zur Schleusenanlage gehört und an dem „Protection civile“ zu lesen ist. Die Hotelfassade ist schmal und grau. Die Fenster in allen drei Etragen sind mit großen weißen Quadern vermauert. Der ehemalige Eingang zum Hotel ist mit Holztafeln versperrt.

Das Ausflugsschiff, das hier gelegentlich den Kanal entlangfährt, heißt „Arletty“, nach der Schauspielerin, die in Marcel Carnes Film Hotel du Nord von 1938 die vielleicht berühmteste Replik des französischen Kinos spricht, die purer Nonsens war, vielleicht nur ein Atelierscherz bei den Dreharbeiten: „Atmosphere, atmosphere

--est-ce que j'ai une gueule d'atmosphere...?“

Nach „Atmosphäre“ sieht es heute am Hotel du Nord nicht aus. Der Putz bröckelt überall, an den weißen und den grauen Stellen. So ist es nicht einmal als Dekor verwendbar. Das Hotel steht unter Denkmalschutz, aber es ist wie ein Denkmal für etwas Abwesendes. 1984 machten eine Bürgerinitaitive und die Presse auf den fortschreitenden Verfall des Gebäudes aufmerksam, in dem einige maghrebinische Einwanderer Unterschlupf gefunden hatten. Später wurde das Haus geräumt, zugemauert, zum geschützten Bauwerk erklärt, „classe“ nennt man das hier, und seinem Schicksal überlassen.

Der Kampf für den Erhalt des Hotels beruhte auf einem Mißverständnis. Denn der Film, der zu den Meisterwerken von Marcel Carne und damit des französischen Poetischen Realismus gehört, wurde gar nicht hier gedreht, sondern in den Studios in Billancourt. Am Anfang aber stand ein Roman, Hotel du Nord von Eugene Dabit, erschienen 1929, auf Kosten des Autors bei dem soeben gegründeten Verlag Denoel. Der Nonsens-Satz der Arletty kommt in dem Roman, der dem Film den Titel gab, gar nicht vor, so wie der Film mit dem Roman kaum etwas zu tun hat.

Als der Film entstand, war Dabit schon seit zwei Jahren tot. Das kurze Leben des 1898 geborenen Eugene Dabit weist drei Besonderheiten auf: seine Situation als ästhetischer Autodidakt aus bescheidenen Verhältnissen, der große, aber einmalige Erfolg seines Romans Hotel du Nord, sein rätselhafter Tod 1936 auf einer Reise französischer Schriftsteller durch die Sowjetunion.

Der aus einer Handwerkerfamilie stammende Dabit wuchs im Pariser Norden auf, in Montmartre, und hat als einziges Diplom den Volksschulabschluß erworben. Er war Schlosserlehrling und Waggonwäscher bei der Metro; als Achtzehnjähriger meldet er sich 1916 freiwillig an die Front des Ersten Weltkrieges. Er überlebt einige der heftigsten Schlachten des Krieges, darunter die am Chemin des Dames. Nach dem Krieg ist er entschlossen, ein unabhängiges Leben zu führen, er arbeitet als Industriezeichner und läßt sich zugleich bei verschiedenen privaten Akademien in Montmartre und Montparnasse zum Kunstmaler ausbilden. Dabei lernt er die Malerin Beatrice Appia kennen, die er 1924 heiratet. Dabit hat sein Leben lang gemalt und einige hundert sehenswerte Ölbilder geschaffen, Porträts, Städtebilder, Landschaften. Ab 1926 allerdings nimmt das Schreiben den ersten Rang in seinem Leben ein, wobei seine Romanästhetik von seiner malerischen Arbeit stark geprägt bleibt.

Mit einem ersten Manuskript wendet er sich geradewegs an den bedeutendsten französischen Schriftsteller dieser Jahre, an Andre Gide. Gide findet ein gewisses Interesse an dem autobiographischen Text, den er erhalten hat, sieht sich aber nicht in der Lage, dem jungen Autodidakten aus Montmartre zu helfen. Er reicht den Text weiter an seinen Schriftstellerkollegen Roger Martin du Gard, der zum literarischen Mentor von Dabit wird, obwohl soziale Herkunft und Schreibweise beide erheblich unterscheiden.

Das eingeschickte Manuskript wird nach langen Umarbeitungen als Dabits zweiter Roman unter dem Titel Petit-Louis 1930 erscheinen. Als Romanerstling erschien bereits 1929 der Roman, der Dabit schlagartig bekannt machen sollte und der zugleich sein einziger literarischer Erfolg blieb: eben Hotel du Nord.

1923 hatten die Eltern Dabits, mit geliehenem Geld, das Hotel am Canal Saint-Martin erworben. Dabit hat dort des öfteren ausgeholfen und kannte das Leben in diesem Arme -Leute-Hotel sehr gut. Sein Roman hat das Hotel seiner Eltern, einfache, friedliche, verständnisvolle Leute, die ihrem Sohn alle Freiheiten ließen und auch seine künstlerischen Ambitionen nicht behindert haben, zu einem literarischen Mythos gemacht.

Der Roman beginnt mit dem Erwerb des Hotels durch Emile Lecouvreur und seine Frau Louise, wie die Dabits im Roman heißen; der Sohn Maurice wird nur beiläufig erwähnt. Dann werden der Reihe nach verschiedene Gäste geschildert und Szenen aus ihrem Leben erzählt. Es gibt in diesem Roman keine Geschichten, die zu Ende erzählt werden, es gibt Facetten, Situationen, Lebensmomente. Einige Personen kehren in verschiedenen Kapiteln wieder, anderen ist nur ein einziger kleiner Abschnitt gewidmet, so den beiden Schwestern Delphine und Julie. Julie lebt ganz unter der Fuchtel der älteren verbitterten Schwester, als sie eine heimliche Liaison mit dem Lastwagenfahrer Marcel anfängt, weiß Delphine es zu unterbinden.

Die Personen des Romans werden mit teilnehmender Sympathie geschildert, wie der erfolglose Theaterautor Raoul Farges oder der alte Arbeiter, den alle Pere Deborger nennen, der zunächst nur Stammkunde an der Theke ist, später als Dauergast ins Hotel zieht, dort aber bald stirbt.

Die Gäste des Hotel du Nord führen ein monotones Leben. Mechanische Existenzen werden uns gezeigt, Menschen, die unwiderruflich an niedere Arbeiten gekettet sind. Von Beruf sind sie Angestellte, Bürokräfte, Elektriker, Bauarbeiter, Verkäuferinnen, Näherinnen. Aber auch ein Falschspieler, ein Kommunist und ein pensionierter Soldat gehören dazu.

Der Roman bietet einen Ort, einen Dekor, eine Atmosphäre eben und viele Figuren, Schicksale im Dutzend, aber keine zentrale Story und keine Dramatik. Auch wenn ein Gast stirbt, eine Schlägerei aus Eifersucht oder aus politischem Anlaß stattfindet, verliert Dabits Text nicht seine karge Sanftheit. Einzig der Ort, das Hotel und seine Umgebung, die Schleuse, der Kanal, der Trottoir, einige Straßen in Belleville, machen die große Einheit, ja Geschlossenheit des Romans aus.

Der Film von Carne übernimmt den Titel und vor allem den Schauplatz, führt zentrale Figuren und durchgehende Handlungsträger ein, ohne das Prinzip des Atmosphärischen und des Vielfältigen ganz aufzugeben. Der Roman endet übrigens mit dem Verkauf und dem Abriß des Hotels, an dessen Stelle eine Lederfabrik errichtet werden soll. In Wirklichkeit haben die Eltern von Eugene Dabit das Hotel bis in die vierziger Jahre weitergeführt, hat das Haus noch mehrere Jahre nach dem Krieg als Hotel und Bistro gedient, ehe es dann lange Jahre leer stand und dem Verfall preisgegeben wurde.

Das Erstaunliche an diesem Roman ist, daß ein so persönliches Buch wieHotel du Nord, das so sehr an den Stil und die Lebenswelt des literarischen Außenseiters Eugene Dabit gebunden ist, bei seinem Erscheinen mit einer neuen literarischen Tendenz übereinstimmt.

In den Jahren um 1930 tritt eine literarische Gruppe auf den Plan, die sich die „Populisten“ nennen, und sowohl gegen einen Psychologismus a la Gide oder Proust polemisieren wie gegen eine linke engagierte a la Nizan oder Aragon. Dabit hat mit dieser Gruppe um Andre Therive nichts zu tun, gleichwohl sehen die Populisten Hotel du Nord als einen Roman nach ihrem Programm der Erneuerung und Fortführung des Naturalismus an. 1931 erhält Dabits Roman den erstmals verliehenen und mit 5.000 Francs dotierten Literaturpreis dieser Gruppe, den „Prix Populiste“, dessen letzter Preisträger 1940 übrigens Jean-Paul Sartre heißen wird (für Le mur).

Von September bis November 1931 erscheint die deutsche Übersetzung des Hotel-Romans als Fortsetzungsroman in der Berliner Zeitung 'Die Welt am Abend‘. Als Buch kommt er im selben Jahr bei Kaden & Co. in Dresden heraus, wo 1932 auch Petit-Louis unter dem Titel Der Kleine erscheint.

Der Erfolg des ersten Romans bringt Dabit ins literarische Gespräch und die Welt der Literaten. Er erhält einen langfristigen Vertrag mit dem Verlag Gallimard, bei dem dann alle seine Texte erschienen sind. Aber glücklich wird er nicht. Sein autobiographischer Roman Petit-Louis wird nur zurückhaltend besprochen und schlecht verkauft. Dabit schreibt in den nächsten Jahren sehr viel und, wie es scheint, sehr hektisch. Auf fünf Romane und drei Novellenbände wird er es in kurzer Zeit bringen. Er verfaßt Kunstkritiken und Essays, politische Artikel und Reportagen. Aber der große literarische Wurf will nicht noch einmal gelingen. Eine Theaterfassung seines Hotel-Romans mit dem Titel Le pont turnant bleibt erfolglos und wird erst zu seinem zehnten Todestag 1946 gedruckt, aber nie gespielt.

In den dreißiger Jahren sind viele französische Autoren politisch sehr aktiv, sie engagieren sich, besonders zwischen 1933 und 1936 gegen die Gefahr, die von Hitler -Deutschland ausgeht, viele nähern sich der Kommunistischen Partei oder treten ihr bei. Es ist die Zeit der „compagnons de route“, der intellektuellen Weggefährten des Stalinismus, die in der Sowjetunion einen neuen Menschheitsmorgen dämmern sehen. Reisen in die Sowjetunion gehören in den Jahren bis 1939 zum Programm vieler Autoren, allen voran Malraux, Aragon, Nizan und Andre Gide.

Auch Dabit ist politisch aktiv, hält Vorträge und unterzeichnet Manifeste, wenngleich die neuen linken Freunde seine Romane als kleinbürgerlich und nicht klassenbewußt genug kritisieren. 1936 lädt ihn Andre Gide ein, mit ihm und einer Gruppe von Schriftstellern in die Sowjetunion zu fahren. Diese großmütige Geste seines bewunderten Vorbilds wird Dabit zum Verhängnis.

Die Reise führt über Leningrad und Moskau nach Sebastopol. Bei der Besichtigung einer Mustersiedlung für heimatlose Jugendliche kommen Gide und Dabit zum ersten Mal in ein ausführliches persönliches Gespräch. Dabit erzählt von seinen Anfängen, auch von der vergeblich gesuchten Nähe zu Gide, der aufrichtig gerührt ist, wenn wir dessen viel später gemachten Tagebuchnotizen glauben dürfen. Am Abend nach diesem Gespräch muß sich Dabit, ein sportlicher, lebensfroher Typ, der nie krank ist, mit Fieber ins Bett legen. Die französische Delegation reist ohne ihn zurück nach Moskau. Dabits Zustand verschlechtert sich dramatisch. Am 21.August 1937 ist Eugene Dabit in Sebastopol gestorben. Der Name des Hotels, in dem er dort zuletzt untergebracht war, lautete: Nord-Hotel.

Die offizielle Diagnose der russischen Ärzte lautete: infektiöser Scharlach. Aber es kommen Gerüchte auf, daß hier nicht alles mit rechten Dingen zuging, Beweise für ein politisches Verbrechen gibt es aber nicht. Immerhin hat es auf der Reise politische Unstimmigkeiten gegeben. Auch Dabit soll heftige Enttäuschung geäußert haben. Andre Gide wird nach dieser Reise einen aufsehenerregenden Essay schreiben, in dem er seine Weggefährtschaft mit der Linken aufkündigt. Diese Buch, Retour de l'U.R.S.S., ist der Erinnerung an Eugene Dabit gewidmet, geht auf dessen Tod am Schwarzen Meer allerdings nicht ein.

Im September 1936 übergeben die sowjetischen Behörden eine Urne mit der Asche von Dabit sowie dessen Briefe und Tagebücher den französischen Behörden. Die Urne wird nach Paris überführt und am 7.September 1936 auf dem Friedhof Pere Lachaise in Paris beigesetzt. Viele Schriftsteller nehmen an dieser Beerdigung teil, auch Gide und Aragon.

Ein kleiner Platz wird Eugene Dabit in der französischen Literaturgeschichte und in der Pariser Stadtgeschichte gewiß bleiben, weil sein Werk diesen mythischen Fixpunkt hat am stillen grünen Rand des Canal Saint-Martin.